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Mondschein, Blume oder Trautropfen?

Ludwig van Beethoven: Klaviersonate cis-Moll op. 27, Nr. 2 „Mondscheinsonate“

19.10.2021 — von Oliver Gerndt

„Ach, das Stück ist von Beethoven!?“

Ludwig van Beethoven, Sonate cis-Moll op. 27, Nr. 2 (Daniel Barenboim)

Das waren meine ersten Gedanken, als ich Beethovens 14. Sonate, die „Mondscheinsonate“, zum ersten Mal in meinen Teenagerjahren bewusst gehört habe. Kein Wunder, dass ich das Stück schon kannte, denn der erste Satz dieser Sonate ist neben dem dritten Satz der Sonate KV 331 (Rondo alla Turca) in A-Dur von Mozart, aber auch modernen Popliedern wie „The River flows in you“ von Yiruma eines der bekanntesten Klavierstücke und wird heute noch von vielen Musikliebhabern gespielt und gehört.

Die Entstehung von Beethovens Mondschein-Sonate

Die Entstehung von Beethovens Mondschein-Sonate, Stich nach einer Vorlage von Lorenz Vogel, aus: „Die Gartenlaube“ Nr. 25, 1896 (Beethoven-Haus Bonn, B 2430, gemeinfrei)

Seit über 200 Jahren zieht Beethovens Sonate op. 27, Nr. 2 die Zuhörenden in ihren Bann und besonders der erste Satz löst die verschiedensten Träumereien aus. So kam es wahrscheinlich zu dem Beinamen „Mondscheinsonate“. Der Dichter Ludwig Rellstab hat ihn erst einige Jahre nach Beethovens Tod geprägt. Rellstab assoziierte das Stück mit einer Nachtszene an einem See. Anders als bei der „Grande Sonate Pathétique“ (op. 13) oder der Sonate „Les Adieux“ (op. 81a) stammt der berühmte Name „Mondscheinsonate“ also nicht von Beethoven selbst.

Adolf Chwala, See bei Nacht

See bei Nacht, Adolf Chwala, vor 1900 (gemeinfrei)

Keiner falschen Quinte wäre ich werth, wenn ich das Adagio aus der Phantasie in Cis-moll vergessen hätte. Der See ruht in dämmerndem Mondenschimmer, dumpf stößt die Welle an das dunkle Ufer, düstre Waldberge steigen auf und schließen die heilige Gegend von der Welt ab, Schwäne ziehn mit flüsternden Rauschen wie Geister durch die Fluth und eine Aeolsharfe tönt Klagen sehnsüchtiger einsamer Liebe geheimnisvoll von jener Ruine herab. – Still, gute Nacht!

Ludwig Rellstab in der Berliner Allgemeine musikalische Zeitung Nr. 32, 1824, S. 274

Beethoven selbst bezeichnete seine cis-Moll-Sonate als „quasi una fantasia“ (ital.= „fast eine Fantasie"), eine Bezeichnung, die nach meiner Meinung treffend ist, da ich mir – besonders beim Hören des ersten Satzes – unterschiedliche Szenarien vorstellen muss und es genieße, in diesen Fantasien zu versinken. Aber auch musikalisch ist der Begriff Fantasie passend, da die Sonate nicht der klassischen Kompositionstechnik einer Sonate folgt.

Nicht nur der bekannte erste Satz der Sonate regt Fantasien an. Auch der zweite und dritte Satz bringen unterschiedliche Assoziationen hervor, beispielsweise heißt es bei Franz Liszt:

„Eine Blume zwischen zwei Abgründen“. So bezeichnet er den zweiten Satz der Sonate, der im Vergleich zu den anderen zwei Sätzen kurz, lebhaft und froh ist.

Oder die Interpretation des Schriftstellers Wilhelm von Lenz:

„Ein Tautropfen, den ein an ihm vorüberziehender Planet bestrahlt“.

Welcher Satz genau mit dieser Interpretation gemeint ist, ist mir allerdings nicht bekannt.

Um zu verstehen, was beispielsweise Liszt mit den „zwei Abgründen“ meint, schauen wir uns doch mal die Sonate etwas genauer an.

Im Jahre 1801 wird die Sonate op. 27, Nr. 2 veröffentlicht. Sie bildet zusammen mit einer Sonate in Es-Dur Beethovens Opus 27 und besteht aus drei Sätzen: Adagio sostenuto , Allegretto und Presto agitato. Die Sätze folgen also dem Aufbau langsam – schnell – sehr schnell, was für eine Sonate der Wiener Klassik ungewöhnlich ist. Normalerweise würde man die Tempofolge schnell – langsam – schnell erwarten. Auch andere konventionelle Formprinzipien der Sonate, wie beispielsweise ein Haupt- und ein Nebensatz des ersten Satzes, lassen sich kaum erkennen. Ohne diese konventionellen Formen gewinnt die Sonate an Freiheit, denn sie wurde frei von den üblichen Regeln komponiert. Demnach ist der Name „quasi una fantasia“ gewiss auch musikalisch gedacht, da eine Fantasie keinen speziellen Regeln und Normen folgt.

Zurück zum Aufbau der Sonate:

Der erste Satz, Adagio sostenuto, ist ruhig und getragen und wohl der bekannteste der Sonate. Eine melancholische Melodie spricht die Zuhörenden an. Rellstab, den ich oben zitiert habe, empfindet andererseits ein Gefühl der Sehnsucht, Liebe und der Stille beim Hören dieses Satzes.

Der zweite Satz, Allegretto, hingegen ist froh und leichtsinnig. Der Satz ist in Des-Dur geschrieben und damit der einzige der Sätze in Dur. Ebenfalls fällt auf, dass der zweite Satz im Vergleich zu den anderen sehr kurz ist. Dadurch wirkt er wie ein kleines frohes Zwischenspiel inmitten von zwei schweren und düsteren Sätzen.

Ein Presto agitato schließt die Sonate in rasender Brutalität ab. Die Zuhörenden haben keine Möglichkeit durchzuatmen und eine enorme musikalische Spannung bleibt von Anfang bis zum Schluss. Auch den Interpreten fordert dieser Satz wohl am meisten heraus, da spieltechnisch viel vom Pianisten verlangt wird.

Im Laufe der Jahre wurde die Sonate immer wieder neu musikalisch, aber auch gedanklich neu interpretiert und bei jedem weckt sie eine andere Assoziation, beispielsweise steht bei dem ersten Satz die Spielanweisung „Si deve suonare tutto questo pezzo delicatissimamente e senza sordini“ zu deutsch „Dieses ganze Stück muss man sehr feinfühlig und ohne Dämpfer spielen“. Das heißt, dass man das ganze Stück mit dem gedrückten rechten Pedal spielen soll. Dies wird aus klaviertechnischen Gründen heutzutage eher vermieden, da sich die Töne der einzelnen Akkorde sehr stark vermischen würden und der Klang „verwaschen“ wäre.

Ein nicht endendes Feuer, das Fantasien über Jahrhunderte immer wieder neu entflammen lässt. Doch was mag das Stück für Beethoven bedeutet haben?

Beethoven widmete die Sonate Giulietta Guicciardi. Sie war eine Klavierschülerin, zu der er besondere Gefühle entwickelt hatte. Allerdings muss ihm bewusst gewesen sein, dass aufgrund des Standesunterschiedes eine Heirat undenkbar war und nicht infrage kam. Zudem war Giulietta zu dem Zeitpunkt, als Beethoven sie kennenlernte, bereits mit dem Grafen Wenzel Robert von Gallenberg verlobt, den sie 1803 heiratete. Die Vermutung liegt nahe, dass die Mondscheinsonate von Beethovens Beziehung zu Giulietta erzählt. Eine Liebe, die zum Scheitern verurteilt war.

Giulietta Guicciardi

Giulietta Guicciardi (gemeinfrei)

Vielleicht hat Beethoven mit seiner Mondscheinsonate auch auf andere Musik angespielt. Denn es besteht eine verblüffende Ähnlichkeit zwischen dem ersten Satz der Mondscheinsonate und der Todesszene des Komturs in der Oper „Don Giovanni“ Mozarts.

Das obere Notenbeispiel zeigt den Beginn des ersten Satzes der Mondscheinsonate und das untere, rot markierte zeigt die Klaviertranskription der Todesszene des Komturs.

Mondscheinsonate, 1. Satz

Ludwig van Beethoven, Sonate op. 27 Nr. 2, erster Satz (gemeinfrei)

Mozart, Don Giovanni (Auszug)

Wolfgang Amadeus Mozart, Don Giovanni, Todesszene des Komturs aus dem 1. Akt (gemeinfreiI)

Anhand der beiden Auszüge lassen sich die Ähnlichkeiten deutlich erkennen. Die oberen Stimmen spielen durchgehend in Triolen gebrochene Akkorde, während die unteren Stimmen im Bass ganze Noten spielen. Bei beiden Triolenketten gibt es keine großen harmonischen Spannungen und die Zuhörenden können ein Gefühl des „Sich-treiben-Lassens“ erleben. Beide Stücke erwecken eine Melancholie, die mich persönlich immer wieder beeindruckt.

Die Vermutung liegt nahe, dass Beethoven durch diese Szene inspiriert wurde, da er ohne Zweifel Mozarts Oper genau kannte. So schrieb er Variationen über Lá ci darem la mano („Reich mir die Hand, mein Leben“) aus Don Giovanni und hat Abschriften angefertigt, die ihm als Inspiration für seine eigene Oper „Fidelio“ im Jahre 1805 gedient haben mochten.

Steht die Vertonung des Todes in Don Giovanni metaphorisch für den Tod der Liebesbeziehung zwischen Beethoven und Giulietta Guicciardi? Vielleicht musste Beethoven beim Hören dieser Stelle der Oper an seine geliebte Giulietta denken und daran, dass die Liebe zu ihr „tot“ ist und kein hoffnungsvolles Ende findet?

Wolfgang Amadeus Mozart, Don Giovanni, Tod des Komturs aus dem 1. Akt, 1. Szene (Salzburger Festspiele 1954)

Darauf würden wir wohl nur eine konkrete Antwort bekommen, wenn wir die Möglichkeit hätten, in die Vergangenheit zu reisen und Beethoven zu fragen. Ohne Zweifel hat die Sonate über die Jahrhunderte nichts von ihrer Originalität verloren und kann jeden dazu anregen, sich auf eigene Fantasiereise zu begeben. Ein Stück, das sicherlich auch noch die nächsten 200 Jahre „quasi una fantasia“ bleibt und weiter Träumereien anregen wird.

Dieser Text wurde verfasst für das Konzert „250 Jahre plus 1: Beethoven pur“ des Frankfurter Tonkünstlerbunds (24. Oktober 2021, Saalbau Frankfurt-Bornheim).