Werktextblog
Alle Artikel
Index: Komponist*innen und Werke

Pathos und Kontrast

Ludwig van Beethoven: Klaviersonate c-Moll op. 13 „Pathétique“

25.09.2021 — von Oliver Gerndt

Beethovens achte Sonate: die „Grande Sonate Pathétique“ (Op. 13). Sie zählt neben der „Mondschein-Sonate“, der „Appassionata“ und der „Waldstein-Sonate“ zu seinen bekanntesten Klavierwerken. Was allerdings macht ausgerechnet diese Sonate so außergewöhnlich? Welche musikalischen Kontraste zeichnen sie aus? Und was hat es eigentlich mit dem Wort „pathetisch“ auf sich?

Ludwig van Beethoven: Klaviersonate c-Moll op. 13 (Igor Levit)

Wir schreiben das Jahr 1799. Die achte Sonate erscheint mit dem Titel „Grande Sonate Pathétique“. In diesem Jahr sind außerdem die beiden Klaviersonaten op. 14 Nr. 1 und 2 und die fünf Streichquartette op. 18 von Beethoven erschienen. Im Vergleich zu anderen Werken, beispielsweise der „Mondscheinsonate“ oder der „Appassionata“, ist die Sonate op. 13 mit Beethovens Zustimmung direkt unter dem bekannten Namen veröffentlicht worden.

Erstausgabe Pathétique

Titelblatt der Erstausgabe (gemeinfrei)

Das Wort „Pathos“ stammt aus dem Griechischen und lässt sich übersetzen mit: Erlebnis, Unglück, Schicksal, Verlust, Leid, Leidenschaft und Gemütsbewegung. Dies sind viele Bedeutungen doch was könnte der Begriff „pathetisch“ in Bezug auf die Sonate op. 13 bedeuten?

Es gibt meiner Meinung nach ein passendes Zitat über die Bedeutung des „pathetischen“ in der achten Sonate Beethovens von Anselm Cybinski, der zusammen mit Igor Levit eine interessante Podcast-Serie über die 32 Klaviersonaten Beethovens bei BR-Klassik veröffentlicht hat.

„Pathetisch“ meint hier nämlich gerade nicht, dass heftigste Seelenregungen hemmungslos ausgelebt werden, sondern im Gegenteil deren Beherrschung.

Anselm Cybinski in Igor Levits Klavierpodcast

Warum ich dieses Zitat passend finde, möchte ich anhand einer kleinen musikalischen Analyse verdeutlichen.

Schauen wir uns als erstes einmal an, wie die Sonate aufgebaut ist. Sie besteht aus drei Sätzen: Grave – Allegro di molto e con brio (0:00-9:15 min), Adagio cantabile (9:15-15:00 min) und Rondo – Allegro (15:00-19:01 min). Eigentlich würde man eine typische Schnell-langsam-schnell-Folge, welche oft in Sinfonien, Streichquartetten oder Klaviersonaten Verwendung findet, erwarten. Aber Moment, was hat es mit dem Grave auf sich?

Partiturseite

Grave (gemeinfrei)

Das Grave steht als Einleitung vor dem eigentlichen Allegro-Satz. Es ist nicht ungewöhnlich für die Zeit. Allerdings ist die Verarbeitung des Grave-Teils im Kontext dieser Sonate phänomenal, da Elemente des Grave-Abschnitts immer wieder im Verlauf des ersten Satzes aufgegriffen werden. Dadurch entsteht ein Wechselspiel zwischen dem Grave und dem Allegro. Zuerst sei aber erwähnt, dass schon in den ersten vier Takten die Melodiestimme einen Tonumfang von fast zwei Oktaven (c'–b'') aufweist. Schon die ersten vier Takte bauen durch die weiten Sprünge von c' zu b'' und wieder zurück zu es' eine große Spannung auf.

Nach der langsamen quälend-fragenden Grave-Introduktion folgt mit einem Aufschrei der Hauptsatz Allegro di molto e con brio (2:40 min). Ein kompletter Kontrast. Zuerst baut der klagende Ton des Grave eine große Spannung auf, bevor das Allegro mit brutaler Gewalt hereinstürzt. Neben dem grummelnden Bass geht die rechte Hand stufenweise nach oben. Ähnlich wie die Melodie im Grave-Satz. Diesmal jedoch mit gesteigerten Tempo und einem weitaus kleineren Tonumfang. Das verleiht dem Allegro einen wilden Charakter, immer vorwärts drängend und ganz im Kontrast zur in sich ruhenden Grave-Introduktion.

Partiturseite

Allegro di molto e con brio (gemeinfrei)

Genau diese Kontraste der Sonate wollen wir uns im weiteren Verlauf genauer anschauen.

Das zweite Thema des Satzes steht nicht wie gewöhnlich in der parallelen Dur-Tonart Es-Dur, sondern interessanterweise in es-Moll (4:25 min).

Dies hat zur Folge, dass die klagende und fragende Grundstimmung weiter exponiert wird. Neue motivische und melodische Gestaltungen werden im zweiten Thema vorgestellt. Ab Takt 89 erklingt, jetzt in der parallelen Dur-Tonart von c-Moll, die Schlussgruppe in Es-Dur (4:52 min). Die klagend-fragende Grundstimmung der ersten beiden Themen wird nun zu der Schlussgruppe der Exposition hingeleitet, die motiviert und Zuversicht erwecken möchte. Es wirkt beinahe wie ein drittes Thema, welches neue motivische und melodische Gestaltungen gegenüber den ersten beiden Sätzen aufzeigt.

Auffällig zwischen dem ersten Thema und der Schlussgruppe ist die gegensätzliche Führung der Stimmen. Während die Stimmen des ersten Themas sich im Verlauf verengen, erweitern sich die Abstände der Stimmen in der Schlussgruppe.

Partiturausschnitt

1. Satz, 1. Thema (gemeinfrei)

Partiturausschnitt

1. Satz, Schlussgruppe (gemeinfrei)

Weitere Kontraste bildet der Verlauf des ersten Satzes. Nach der Exposition erklingt wieder ein weitaus kürzeres Grave. Dann die Durchführung wieder mit der Vortragsweise Allegro molto e con brio. In der Coda erscheint erneut ein Grave.

Dieses ständige Wechselspiel des ersten Satzes zwischen langsam-traurig und schnell-unaufhaltsam wirkt sich stark auf die Zuhörer aus. Diese können Gefühle von tiefster Traurigkeit bis hin zur heitersten Aufbruchstimmung erleben. Das bringt uns wieder auf Anselm Cybinskis Behauptung zurück: Es können verschiedene „Seelenregungen“ erlebt werden.

Auf das Wechselspiel folgt mit dem zweiten Satz ein Adagio cantabile (9:15 min). Nicht nur der Begriff Adagio cantabile verrät, dass die Vortragsweise anders sein muss als die des Allegro-Satzes. Auch die komplette musikalische Gestaltung des Satzes ist anders.

Partiturausschnitt

2. Satz (gemeinfrei)

Eine klare und deutliche Melodielinie, gestützt von den anderen Stimmen, bahnt sich einen Weg zum Zuhörenden. Das Thema des Adagios beruht auf weitaus größeren Intervallen als die Melodien des Grave- und Allegro Satzes. Auch die Bassstimme ist weitläufiger geführt als die des vorhergehenden Satzes.

Somit ergibt sich ein weiter musikalischer Raum, indem sich der Zuhörende, aber auch der Vortragende in einer sehnsüchtigen Traumwelt verlieren kann.

Nachdem wir die unterschiedlichsten „Seelenregungen“ betrachtet haben, stellt sich die Frage wie sie „beherrscht“ werden.

Eine Antwort weiß der finale Satz, ein Rondo-Allegro (15:00 min). In diesem werden alle Kontraste und Widersprüche schon in den ersten Takten zusammengeführt, weitergeführt und sozusagen „beherrscht“.

Schon ein Blick in die Noten verrät, dass die Artikulation des Auftaktes des Ritornells sich stark an die des ersten Satzes, zweiten Themas anlehnt.

Partiturausschnitt

3. Satz, Ritornell (gemeinfrei)

Partiturausschnitt

1. Satz, 2. Thema (gemeinfrei)

Ebenfalls kann schon im ersten Takt ein motivischer-rhythmischer Bezug zur Grave-Introduktion hergestellt werden.

Partiturausschnitt

3. Satz, Ritornell (gemeinfrei)

Partiturausschnitt

1. Satz, Grave (gemeinfrei)

Und auch Anspielungen auf den zweiten Satz lassen sich entdecken. Die Intervallabstände der beiden Motive sind exakt gleich und beide kommen in den Takten 5 und 6 vor.

Partiturausschnitt

3. Satz, Ritornell (gemeinfrei)

Partiturausschnitt

2. Satz (gemeinfrei)

Das Ritornell schließt mit einem Motiv ab, das eine Ähnlichkeit mit dem ersten Thema und der Gegenbewegung der Schlussgruppe des ersten Satzes hat.

Partiturausschnitt

3. Satz, Ritornell (gemeinfrei)

Partiturausschnitt

1. Satz, Allegro (gemeinfrei)

Jetzt fehlt nur noch ein großer Kontrast der ersten beiden Sätze: der große weite musikalische Raum, der im zweiten Satz aufkommt. Wir müssen nicht lange suchen. Im zweiten Couplet des Rondos werden wir fündig.

Partiturausschnitt

3. Satz, zweites Couplet (gemeinfrei)

Partiturausschnitt

2. Satz (gemeinfrei)

Anhand dieser kleinen Analyse können wir schon erkennen, welches kreative und abwechslungsreiche Werk die Pathétique ist. Ein phänomenales Stück, das es schafft, große Kontraste („Seelenregungen“) gegenüberzustellen und im Verlauf der Sonate miteinander zu verschmelzen („zu beherrschen“).

Der von Beethoven stammende Begriff „pathetisch“ verlangt eine Auseinandersetzung mit ihm bei jeder Analyse. Die Analyse wiederum prägt meine individuelle Auffassung des Begriffs. Sowohl der Begriff als auch die Musik geben damit Raum für vielfältige, einander bedingende Interpretationen.

Dieser Text wurde verfasst für das Konzert „250 Jahre plus 1: Beethoven pur“ des Frankfurter Tonkünstlerbunds (24. Oktober 2021, Saalbau Frankfurt-Bornheim).