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Index: Komponist*innen und Werke

Ein Schlüsselwerk des 20. Jahrhunderts

Bohuslav Martinů: Erste Sonate für Flöte und Klavier

05.07.2023 — von Violetta Gaul

In einem Kirchturm der kleinen ostböhmischen Stadt Polička wurde 1890 Jan Bohuslav Martinů geboren, wo er mit seinen zwei älteren Geschwistern aufwuchs. Nicht nur die geistliche Musik und der Duft von Weihrauch, der aus der Kirche in die Turmwohnung drang, sondern auch die eigene römisch-katholische Konfession hatte einen immensen Einfluss auf Martinůs Leben und Musik.

So manches Mal habe ich darüber nachgedacht, welch großen Einfluss mein Turmleben auf meine musikalische Arbeit gehabt hat. [...], hing in meinem Zimmer stets eine Postkarte mit dem Bild des Marktplatzes von Polička, vom Turm aus gesehen.

Seinen Weg zur Musik und Komposition fand Martinů durch die Geige im Alter von sieben Jahren. Von einem Schneider, der am Fuße des Turms wohnte, bekam er regelmäßig Unterricht. Er übte fleißig und machte schnelle Fortschritte, sodass er 1906 die Aufnahmeprüfung im Prager Konservatorium für ein Violinstudium bestand, wo er auch die Chance bekam, zu komponieren. Jedoch wurde er aufgrund „unverbesserlicher Nachlässigkeit“ und seinen Studienmisserfolgen, die wohl auch mit der Abneigung spätromantischer Musik zu tun hatten, vom Konservatorium entlassen. Seine musikalische Laufbahn führte ihn nach Paris, wo er sich viel mit Jazz und tschechischer Folklore beschäftigte, deren Merkmale in seine Kompositionen einflossen.

Als politisch Verfolgter floh er 1941 nach South Orleans, wo die „First Sonata“ entstand, gewidmet Georges Laurent, dem Flötisten des Bostoner Symphonieorchesters. Die schlimmen Umstände, die der Krieg verursachte, lässt sich dieses musikalische Werk jedoch nicht anmerken. Inspiriert von dem „unendlichen Raum“ der Natur und den Gedanken an seine Heimat vertonte Martinů den Ruf eines Vogels, des Whippoorwill. Diese Nachtschwalbe war ganztägig in der Gegend von Martinůs Wohnung zu hören und bekam das Hauptmotiv im dritten Satz gewidmet.

Whippoorwill (Schwarzkehl-Nachtschwalbe)

Whippoorwill (Schwarzkehl-Nachtschwalbe) (Bild: Alexey Tolmachow, CC BY-SA 4.0)

„[...] Ich glaube, dass sich dieser unendliche Raum als einer der stärksten Eindrücke meiner Kindheit zutiefst in meine Seele eingeprägt hat. Er ist das Erlebnis, dessen ich mir am klarsten bewusst bin, und das für mein Herangehen an die kompositorische Arbeit von großer Bedeutung war. [...], den in Tönen zu erfassen ich in meinen Kompositionen stets bestrebt bin. Raum und Natur, nicht Menschen." (Šafránek 1964, S. 32-33)

So zitiert Milos Šafránek, ein enger Freund Martinůs, den Komponisten in seiner 1964 erschienen Monografie über Martinůs Leben und Werke.

Trotz seiner Abneigung gegen spätromantische und allzu romantisch interpretierte Musik, im Gegensatz zu dem eigentlich einfachen Ursprung, dem „tschechischen Naturell“ seiner Musik wurde und wird Martinů zu seinem Unglück oft romantisch verstanden. Seine Musik ist stets spontan und instinktiv entstanden, was seinen Werken einen neoklassizistischen Charakter verleiht. Statt seine Gefühlswelt lange zu überdenken oder einen Affekt darstellen zu wollen, wie es in der Romantik üblich war, reflektiert Martinů über Momentaufnahmen und Eindrücke. Ihm war es wichtig, dass jeder Mensch Zugang zu seiner Musik findet und die Musik genießen kann, ohne das Verständnis durch Technik, wie Rhythmuswechsel oder ungewohnte Harmonien zu erschweren.

Bohuslav Martinů

Bohuslav Martinů, ca. 1942 (Quelle: Bohuslav-Martinů-Zentrum Policka, Urheber unbekannt, CC BY-SA 3.0 cz)

„Cacher l'art par l'art même“ also „Kunst durch Kunst verstecken“ und „Ich schätze die von meinen Werken am höchsten, die eher unpersönlich sind.[...] Absolute Vollkommenheit ist unpersönlich“, sind Wegweiser und Aussagen Martinůs, die ihn als neoklassizistischen Komponisten zeigen.

Die kurze, dreisätzige Flötensonate versprüht das Gefühl von Leichtigkeit, ausgelassener Fröhlichkeit und Glück. In allen Sätzen treffen neoklassizistische und romantische Merkmale aufeinander und arbeiten Hand in Hand. Virtuose Staccato-Motive gleichen einem Vögelchen, das sich durch die Lüfte schwingt, gepaart mit zahlreichen rhythmischen Taktwechseln und synkopischen Motiven, die jedoch das Zuhören nicht erschweren.

Die wehmütige choralartige Melodie, die im Adagio zu hören und an Martinůs Kirchturm in der Heimat angelehnt ist, schwingt sich zum exzentrischen Höhepunkt der Sonate, bevor sie zur bekannten Anfangsmelodie zurückkehrt und der Satz beruhigt und zufrieden verklingt.

Frech und verspielt beginnt der letzte Satz, das Allegro poco moderato. Hier ist der Ruf des Whippoorwill sowohl rhythmisch als auch melodisch vertont.

Auf das Vogelgezwitscher folgt ein besinnlicher, lyrischer Part, der abermals an Psalmgesänge aus Policka erinnert. Der Satz endet so, wie er beginnt: schnell, feurig und lebhaft.

Bohuslav Martinů, Erste Sonate für Flöte und Klavier (Peter-Lukas Graf/Bernd Glemser)

Eine Frage, die die Musikwelt seit langem diskutiert: War Martinů nun Romantiker oder Neoklassizist?

Um einer möglichen Antwort näher zu kommen, lohnt es sich, beide Epochen grob unter die Lupe zu nehmen. Eine leichtere und einfachere Form der Musik als auch eine Ablehnung des spätromantischen Expressionismus zeichnet den Neoklassizismus aus. Vertreter dieser Epoche sind unter anderem Komponisten wie Strawinsky, Hindemith und Honegger. Klangfarben, die Betonung von Gefühlen und die Ausweitung der Harmonik sind Merkmale der spätromantischen Musikepoche, die uns heute mit Werken von Komponisten wie zum Beispiel Mahler, Strauß und Tschaikowsky bekannt ist.

Martinů vertont in der „First Sonata“ auf vielfältige Weise die Natur, wohl eines der größten Motive in der Romantik. Seine eigene Anforderung, „unpersönliche Musik“ zu komponieren, gelingt ihm auf eine spezielle Art und Weise. Doch was genau ist „unpersönliche Musik“ und gibt es überhaupt unpersönliche Musik? Natürlich kann man den persönlichen Einfluss auf eine Komposition nicht verhindern. Aber man kann seine Komposition zu einem gewissen Grad der Persönlichkeit anpassen. Wir erinnern uns: Martinů floh vor dem Krieg, wurde verfolgt und musste seine Heimat verlassen. Prägende und belastende Erlebnisse, die Schumann, Mahler oder auch Schubert, wie sie es so oft getan haben, in ihrer Musik verarbeitet hätten. Martinů tut genau das nicht. Doch auch wenn er uns nicht an seiner inneren emotionalen Erlebniswelt teilhaben lässt, bekommen wir trotzdem einen kleinen „unpersönlicheren“ Einblick in sein Leben. Salzwiesen, umrandet von dichten Wäldern und vom Wind geformte Sanddünen auf Cape Cod, verziert mit nostalgischen Blicken aus dem heimischen Turmfenster in Polička und vereinzelte Rufe eines Vögelchens der unter Martinůs Fenster hauste, inspirieren seine Musik. Eine Einordnung in eine Stil-Epoche fällt schwer, da Martinů sowohl Merkmale des Neoklassizismus als auch die der Spätromantik erfüllt. Gibt es ein „Dazwischen“? Gibt es eine Kombination oder Mischung der Epochen? Oder ist Martinůs Stil etwas ganz anderes, etwas Neues und Eigenes?