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„Völliges Beugen vor dem Schicksal“

Pjotr Iljitsch Tschaikowsky: 5. Sinfonie e-Moll op. 64

12.01.2023 — von Anne Ilic

Oft überkommen mich Zweifel, und ich stelle mir die Frage: Ist es nicht an der Zeit, aufzuhören? Habe ich meine Fantasie nicht überanstrengt? Ist die Quelle vielleicht schon versiegt?

Diese Sätze schreibt Peter Tschaikowsky im Frühjahr 1888 an seine Gönnerin und Vertraute Nadeshda von Meck.

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Nadezhda von Meck (Urheber unbekannt, gemeinfrei, via Wikimedia Commons)

Gerade arbeitet er an einer neuen Sinfonie – zumindestens versucht er es. Sie zu komponieren scheint für ihn immer wieder ein Kampf mit sich selbst zu sein. Immer wieder zweifelt Tschaikowsky an sich und seinen Ideen.

Zwar „träum[t]e“ er bereits im April 1888 „von einer neuen Symphonie“, wie er von Meck schreibt. Doch noch im Mai klagt er seinem Bruder Modest:

Aber um die Wahrheit zu sagen, es gibt noch immer keinerlei Verlangen zu komponieren. Was bedeutet das? Habe ich mich endgültig ausgeschrieben? Keinerlei Gedanken und Stimmungen! Aber ich hoffe, dass nach und nach das Material für die Symphonie zusammenkommt.

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Peter Tschaikowsky im Jahr 1888 (Fotografie vermutlich von Leonard Berlin, gemeinfrei, via Wikimedia Commons)

Allgemein ist sein Leben zu dieser Zeit von immer wieder aufkommenden Selbstzweifeln geprägt. Sie ziehen sich wie das Schicksalmotiv in der Sinfonie durch den Entstehungsprozess des Werks. Im März 1888 schreibt er am Ende seiner Konzerttournee durch Europa in sein Tagebuch:

Nach Hause. Packen. Es steht eine Reise nach Russland bevor. Schreiben für wen? Weiterschreiben? Lohnt kaum. Wahrscheinlich schließe ich damit für immer mein Tagebuch ab. Das Alter klopft an, vielleicht ist auch der Tod nicht mehr fern. Lohnt sich denn dann alles noch?

Und das, obwohl er mit seinen 48 Jahren eigentlich den Höhepunkt seiner Karriere erreicht hat: Seine Konzerttournee durch Westeuropa war ein voller Erfolg und auch finanziell muss sich Tschaikowsky keine Sorgen machen: Neben seinen Einnahmen durch Kompositionen und Konzerte erhält er seit 1888 eine jährliche Rente von Zar Alexander III. und Nadeshda von Meck unterstützt ihn ebenfalls finanziell.

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Zar Alexander III. im Jahr 1892 (gemeinfrei, via Wikimedia Commons

Auch wenn die Uraufführung seiner vierten Sinfonie bereits elf Jahre her ist, hat Tschaikowsky dennoch in der Zwischenzeit (weitere) Orchesterwerke wie die Ouvertüre 1812 oder im Jahr 1885 die programmatische „Manfred“-Sinfonie komponiert – so ganz aus der Übung müsste er also nicht sein.

Nach ersten Schwierigkeiten kommt Tschaikowsky dann schon im Juni besser voran, wie er von Meck schreibt:

Anfangs ging es ziemlich mühsam; [aber] jetzt ist die Inspiration gleichsam von oben gekommen.

Innerhalb kürzester Zeit komponiert er seine fünfte Sinfonie: Von Mai bis Juli skizziert er das Konzept, von Juli bis August arbeitet er es zur Partitur um. Nebenbei komponiert er auch seine Hamlet-Ouvertüre. Und schon ein halbes Jahr nach dem mühsamen Beginn dirigiert er am 17.11.1888 die Uraufführung in Sankt Petersburg.

Großer Saal der Sankt Petersburger Philharmonie

Ort der Urauffühung: Großer Saal der Sankt Petersburger Philharmonie, Fotografie vom 28.12.2010 (Foto: Igor Fedenko / Ingvar-fed, CC BY-SA 3.0, via Wikimedia Commons)

Tschaikowsky widmete seine fünfte Sinfonie dem Hamburger Musikkritiker, Musikschriftsteller und Direktor der Philharmonischen Gesellschaft Theodor Friedrich Avé-Lallemant, den er auf seiner letzten Konzerttournee durch Westeuropa Anfang 1888 kennengelernt hatte. Ursprünglich sollte Edvard Grieg der Widmungsträger werden, wie Tschaikowsky zu Beginn seiner Arbeit in einem Brief in deutscher Sprache an diesen ankündigt:

Jetzt werde ich so ruhig wie möglich auf [dem] Lande wohnen und arbeiten; ich habe die Absicht eine Simphonie zu schreiben und will Sie an meinen guten Freund Grieg widmen.

Edvard Grieg

Edvard Grieg im Jahr 1891 (Öl auf Leinwand, Urheber unbekannt, gemeinfrei, via Wikimedia Commons)

Die beiden hatten sich Anfang des Jahres auf Tschaikowskys Konzerttournee in Leipzig kennengelernt und angefreundet. Grieg widmete er dann stattdessen seine gleichzeitig mit der Sinfonie komponierte Hamlet-Ouvertüre. Auch die Londoner Gesellschaft war zwischenzeitlich als Widmungsträger im Gespräch.

Theodor Avé-Lallement war interessanterweise von dessen Werken gar nicht so begeistert, wie man von einem Widmungsträger meinen könnte. So berichtet Tschaikowsky in seinem nachträglich niedergeschriebenen Reisebericht im März 1888: Avé-Lallement

bekannte ganz offen, dass vieles in meinen Werken, die er in Hamburg gehört hatte, gar nicht nach seinem Sinn wäre […], dass aber trotz alledem in mir das Zeug zu einem echten deutschen Komponisten ersten Ranges läge. Und mit Tränen in den Augen ermahnte er mich, Russland zu verlassen und mich für immer in Deutschland anzusiedeln […].

Johann Theodor Friedrich Avé-Lallemant

Johann Theodor Friedrich Avé-Lallemant (Urheber unbekannt, gemeinfrei, via Wikimedia Commons)

Wie Ludwig van Beethovens fünfte Sinfonie trägt auch Tschaikowskys Fünfte den Beinamen „Schicksal“. Das Schicksalsmotiv, gleich zu Beginn eingeleitet durch die Klarinetten, zieht sich durch alle vier Sätze des Werks. Auch wenn die Sinfonie kein offizielles Programm hat, können Tschaikowsky Tagebuchnotizen Aufschluss über seine Gedanken(welt) beim Komponieren geben. So steht in seinem Notizbuch:

Programm des I. Satzes der Symphonie | Introduktion. Völliges Beugen vor dem Schicksal, oder, was dasselbe ist, vor der unergründlichen Vorbestimmung der Vorsehung. | Allegro I) Murren, Zweifel, Klagen, Vorwürfe gegen XXX

Anregungen scheint er sich dabei von Edvard Grieg geholt zu haben – oder ist der erste Satz vielleicht sogar eine Art Hommage an seinen Freund, dem er die Sinfonie ja eigentlich widmen wollte? So ähnelt das Hauptthema des ersten Satzes, das nach der Einleitung mit dem Schicksalsmotiv durch die Klarinetten von den Holzbläsern vorgestellt und anschließend von den Streichern weitergeführt wird, in auffallender Weise dem Finale aus Griegs Klaviersonate op. 7.

Für was genau „XXX“ steht, ist allerdings nicht ganz klar. Diese drei Buchstaben tauchen öfters in seinen Tagebucheinträgen auf. Meist werden sie als Kennwort für seine Homosexualität gedeutet, die er geheim halten musste und für ihn dadurch eine Belastung darstellte. Im zaristischen Russland war Homosexualität verboten, im schlimmsten Fall hätte er in ein sibirsches Straflager kommen können.

Zum zweiten Satz, einem „Andante cantabile, con alcuna licenza“, schreibt Tschaikowsky eine Frage in sein Notizbuch: „II) Sich doch in die Umarmung des Glaubens werfen???„ Das Hornsolo im zweiten Satz gehört zu Tschaikowskys beliebtesten Melodien. Glaubt man einem Bericht des niederländischen Dirigenten und Komponisten Willem Mengelbergs, hat Tschaikowsky laut seinem Bruder Modest die Melodie zu den französischen Sätzen „Oh, que je t’aime, jusqu’à la fin de ma vie je t’aime. Quand tu ne pas, ne veux m’aimer“ geschrieben („O, wie ich dich liebe, bis zum Ende meines Lebens liebe ich dich. Wenn du nicht, mich nicht lieben willst.„). Zum zweiten Thema notiert Tschaikowsky selbst in seinen Skizzen „Ein Lichtstrahl?„ und später „Die Antwort, nein, keine Hoffnung!„. Zweimal bricht hart das Schicksalsthema in die sonst sehr fließende und melodische Musik des zweiten Satzes ein und schiebt alle Hoffnung und Liebe beiseite.

Im dritten Satz, einem wunderschönen Walzer („Valse. Allegro moderato“), zeigt sich Tschaikowsky als der Komponist, der größte Erfolge mit seinen Balletten Schwanensee, Dornröschen und Nussknacker erzielen konnte und mit denen er bis heute besonders assoziiert wird. So würdigte die Deutsche Bundespost den 100. Todestag Tschaikowskys mit einer Briefmarke mit Schwanensee-Motiv.

In diesem Satz seiner 5. Sinfonie tanzt das ganze Orchester mal zusammen, mal geht die Melodie durch die einzelnen Instrumente. Fast ist alles gut, doch am Ende meldet sich nochmal leise das Schicksalsthema.

Das Finale dagegen sticht aus der Grundtonart der Sinfonie – e-Moll – heraus. Stattdessen erklingt das Schicksalsthema in E-Dur. Was Tschaikowsky damit ausdrücken wollte, ist bis heute unklar – einen Sieg über das Schicksal? Oder ist es ein Sieg des Schicksals?

Pjotr Iljitsch Tschaikowsky, 5. Sinfonie e-Moll op. 64 (hr-Sinfonieorchester / Manfred Honeck, Leitung)

Doch zufrieden war Peter Tschaikowsky mit seinem Werk keineswegs – kaum vorstellbar, gehört sie doch inzwischen zu seinen beliebtesten Sinfonien. Während des Kompositionsprozesses stellte er sie noch mit seinen anderen Sinfonien gleich, wie sich aus einem Brief von Juni 1888 an einen guten Freund ablesen lässt:

Ich arbeite ziemlich beharrlich, nämlich an einer Symphonie, die, wenn ich mich nicht irre, nicht schlechter sein wird als die vorherigen. Aber vielleicht scheint es mir nur so; Gott gebe, dass es so ist, aber in letzter Zeit verfolgt mich ständig der Gedanke, dass ich mich ausgeschrieben habe, dass der Kopf leer ist, dass es Zeit ist aufzuhören usw.

Doch nach den ersten drei Aufführungen in Sankt in Petersburg und Prag schlug seine Meinung um. In einem Brief an von Meck vom 24. Dezember 1888 verurteilt er seine Sinfonie als „nicht erfolgreich“:

Es ist etwas so Abstoßendes in ihr, ein solches Übermaß an Buntheit und Unaufrichtigkeit, Künstlichkeit. Und das Publikum erkennt das instinktiv. Es war mir sehr klar, dass die Ovationen, deren Gegenstand ich war, sich auf meine frühere Tätigkeit bezogen, und die Symphonie selbst nicht geeignet ist zu begeistern oder zumindest zu gefallen.

Und in einem anderen Brief an sie (?) im Dezember bezeichnet er seine Sinfonie auch als „zu bunt, massiv unehrlich, ausgedehnt [...], überhaupt als sehr unsympathisch“

Erst nach den sehr erfolgreichen Aufführungen in Hamburg 1889, für die er einige Änderungen an der Partitur vornahm (u.a. eine Kürzung des Finales), revidiert er sein Urteil und im März 1889 schreibt er seinem Bruder Modest,

dass Brahms eigens wegen der Sinfonie einen Tag länger blieb, während der gesamten Probe anwesend war und die Sinfonie (übrigens nicht in allen Teilen) sehr gut fand [...] Das Angenehmste ist, dass die Sinfonie aufgehört hat, mir hässlich zu erscheinen; ich habe sie wieder liebgewonnen.

Unterschrift Tschaikowskys

Unterschrift Tschaikowskys (gemeinfrei, via Wikimedia Commons)

Weitere Informationen:

Dieser Text entstand für ein Konzert des collegium musicum der Goethe-Universität Frankfurt am Main.