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Index: Komponist*innen und Werke

Bauen auf Traditionen

Camille Saint-Saëns: Cellokonzert a-Moll op. 33

29.11.2022 — von Debora Sanny Tio

Die doppelte Katastrophe, die sich aus der Niederlage Frankreichs im deutsch-französischen Krieg und dem Aufstand der Kommune von 1871 ergab, veränderte fast alle Aspekte des sozialen und kulturellen Lebens in der französischen Gesellschaft. Opern- und Ballettaufführungen, bis dahin Säulen des französischen Musiklebens, kamen abrupt zum Erliegen – eine unvermeidliche Konsequenz in einer zerrütteten Gesellschaft, da die Aufführung großer Produktionen wie dieser viel Geld und ein stabiles soziales System erfordert. Gleichzeitig wuchs das Bedürfnis nach einem gemeinsamen kulturellen Bindeglied, das der Nation helfen könnte, ihre Identität wiederherzustellen. Infolgedessen begann das französische Publikum, sich wie nie zuvor für instrumentale Konzert- und Kammermusik zu begeistern.

Die 1871 von Camille Saint-Saëns und anderen französischen Musikern gegründete Société nationale de musique trug sicherlich positiv zu dieser Entwicklung bei, gemäß ihrem Ziel, „die Produktion und Popularisierung aller ernsten musikalischen Werke zu fördern“. Und mit „ernsten musikalischen Werken“ meinte die Société nicht-theatralische Werke.

Camille Saint-Saëns

Saint-Saëns circa 1880 (Bild: Charles Reutlinger, 1816–81, gemeinfrei, via Wikimedia Commons)

Das erste Cellokonzert von Saint-Saëns, das 1872 fertiggestellt wurde, profitierte von dieser „Wiederbelebung“ der Instrumentalmusik. Die Uraufführung des Cellokonzerts am Pariser Konservatorium im Januar 1873 war ein Triumph. Damit begann für den Komponisten ein neues Kapitel, insbesondere nach dem Flop seiner 1872 uraufgeführten Oper La princesse jaune. Die Kritiker nannten die Oper „unmelodisch“ und eine „unverständliche Zukunftsmusik“, die „keine Spur von Inspiration“ enthalte. Wenn wir heute dieselbe Musik hören, ist es schwer zu begreifen, wie solche bizarren Vorurteile in jene Kritik einflossen. Aber das waren die Hindernisse, mit denen sich junge französische Komponisten damals konfrontiert sahen, vor allem solche, die sich so offen äußerten wie Saint-Saëns.

Saint-Saëns war zu diesem Zeitpunkt bereits eine durchaus angesehene Persönlichkeit in der Pariser Musikszene, der Öffentlichkeit aber wohl eher als legendärer Organist der Madeleine bekannt, wenn nicht gar als ehemaliges Wunderkind, das sich durch Auftritte an den renommiertesten Pariser Höfen und Salons einen Namen gemacht hatte.

Das Cellokonzert also schlug ein. Sein Erfolg ist zumindest teilweise dem Widmungsträger und Solisten des Werks, Auguste Tolbecque, einem belgischen Cellisten und Instrumentenbauer, zu verdanken. Die enormen technischen Anforderungen des Konzerts boten das perfekte Podium für Tolbecques Virtuosität und und die zahlreicher anderer Cellisten, die nach ihm kamen. Bis heute gilt es als eines der bedeutendsten französischen Cellokonzerte des 19. Jahrhunderts.

Auguste Tolbecque

Auguste Tolbecque, 1865 (Bild: Auguste Tolbecque, CC0, via Wikimedia Commons)

Das „Wesen der Kunst“ bestand für Saint-Saëns in der musikalischen Form. Seine Auseinandersetzung mit ihr prägt auch das Cellokonzert: Die traditionellen drei Sätze verschmilzt er zu einem großen Bogen mit gemeinsamen Themen und Ideen.

Camille Saint-Saëns, Cellokonzert Nr. 1 in a-moll, Op. 33 (Mischa Maisky, Junichi Hirokami, Miyazaki International Music Festival Orchestra, 2013)

Saint-Saëns betrachte „das Solo in einem Konzert [als] eine Rolle, die wie eine Figur in einem Drama konzipiert und gespielt werden muss.“ Ein durchdringender Akkord des Orchesters öffnet den Vorhang für den Solisten, der sich sofort in eine leidenschaftliche Deklamation stürzt. Die Orchestrierung ist im gesamten Stück farbenreich, aber immer transparent und sorgfältig organisiert, so dass sich das Cello ganz natürlich in seiner Solistenrolle einrichten kann, ohne allzu sehr gegen das Orchester ankämpfen zu müssen.

Trotz dramatischer Passagen gibt sich Saint-Saëns seinen Emotionen nicht hin. „Empfindsamkeit in der Kunst“, so sagte er einmal, sei „ein Keim des Todes, dasselbe sei es mit der Liebe im Leben.“ Er verzichtet in seinen Werken im Allgemeinen auf Exzesse. Das Cellokonzert bildet hier keine Ausnahme, und besonders deutlich wird dies im zweiten Satz.

Der elegante zweite Satz mit seinen gedämpften Streichern und der leichten Textur ist eine anachronistische Anspielung auf die französischen Hoftänze von Couperin und Rameau. Der als Menuett konzipierte Satz verwöhnt die Zuhörer mit herzlichen, einfachen Melodien, die nahtlos zwischen dem Solisten und dem Orchester fließen, wie bei einem guten Gespräch unter Freunden. Die Leidenschaft kehrt im äußerst wirkungsvollen Finale zurück, in dem Saint-Saëns frühere Themen aufgreift und neue erfindet. Er lässt ein Thema nach dem anderen auftreten, bevor eine mitreißende Coda das Stück abschließt. Das Cello durchmisst seinen gesamten Tonumfang, bevor es schließlich auf einer hohen Note in A-Dur endet.

Saint-Saëns’ musikalische Helden waren die Klassiker – er hatte bereits 1863 alle Klavierkonzerte von Mozart gelernt und führte sie regelmäßig bis zu seinem Ende auf. Sein ganzes Leben lang versuchte er, ein romantisches Streben nach Subjektivität mit der handwerklichen und formalen Tradition des Klassizismus des 18. Jahrhunderts in Einklang zu bringen. Saint-Saëns feierte in seiner Musik „Klarheit, Logik, Maß, Einfachheit, Luzidität und Vernunft.“ Seine Entschlossenheit, die Kontinuität der musikalischen Tradition zu bewahren, stand für seinen Widerstand gegen die Erosion des kulturellen Fundaments, das er kannte und schätzte. In einer Welt des Postfaktischen und der Fake News hat die Musik von Saint-Saëns nach wie vor ihren Reiz. Wenn Authentizität als romantische Ästhetik bedeutet, seinen Werten unerschütterlich treu zu bleiben, auch wenn dies zum eigenen Nachteil ist – wie es bei Saint-Saëns der Fall war, als er angesichts der Avantgarde als „veraltet“ verspottet wurde – dann gehört Saint-Saëns sicherlich zu den großen Romantikern.