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Index: Komponist*innen und Werke

Abschied vom Altmeister

Igor Strawinsky: Chant funèbre op. 5

01.08.2022 — von Robin Passon

Als im Sommer des Jahres 1908 der Komponist Nikolaj Rimskij-Korsakow verstarb, ging eine Welle der Bestürzung durch die russische Künstlerszene. Auch Igor Strawinsky, damals noch Schüler Rimskij-Korsakows, zeigte sich tief getroffen vom Tod des Lehrers und schrieb aus diesem Anlass innerhalb kürzester Zeit den Chant funèbre op. 5. Entgegen Strawinskys Wunsch wurde das Werk allerdings bei keinem der Gedenkkonzerte für Rimskij-Korsakow aufgeführt. Stattdessen fand die Uraufführung 1909 im Rahmen eines Konzerts für junge Komponisten statt.

Trauerprozession zu Ehren Rimskij-Korsakows durch St. Petersburg (gemeinfrei)

Die Förderung durch Rimskij-Korsakow bildete die Grundlage für Strawinskys spätere Karriere. Strawinsky nahm den intensiven Unterricht als großes Geschenk wahr, da seine Familie keine musikalische Laufbahn für ihn vorgesehen hatte. Zudem entwickelte sich der Lehrer zu einer väterlichen Figur und nahm seinen Schüler in die eigene Familie auf.

Der junge Igor Strawinsky (li.) mit der Familie seines Lehrers Nikolaj Rimskij-Korsakow in dessen Wohnzimmer (2. v. l.), 1908 (gemeinfrei)

An den Tag der Beerdigung erinnerte Strawinsky sich später als einen der „unglücklichsten meines Lebens“. Auch wenn er den Unterricht und die Musikästhetik des Lehrers im Laufe seines Lebens deutlich kritisierte, lassen sich die Einflüsse Rimskij-Korsakows noch in Strawinskys Meisterwerken wie Le Sacre du printemps erkennen.

Als Igor Strawinsky im Jahr 1909 nach Paris reiste, um dort das Ballett L’Oiseau de Feu („Der Feuervogel“) zu komponieren, verwahrte er seine Manuskripte im russischen Familienanwesen. Spätestens in den Wirren der russischen Revolution im Jahre 1917 geriet das Notenmaterial allerdings aus dem Besitz der Familie. Seitdem galt der Chant funèbre als verschollen. Der Verlust des Manuskripts war zwar für Außenstehende bedauerlich, aber vor allem für den Komponisten selbst tragisch. Immerhin bezeichnete er sein Opus 5 als das beste Werk, das er vor dem Oiseau de Feu komponiert habe. Nie zuvor sei er „in der chromatischen Harmonie so weit gegangen“. Auf Umwegen gelangte die Partitur schließlich in die Bibliothek des Rimskij-Korsakow-Konservatoriums in St. Petersburg. Eine Bibliothekarin fand sie dort im Jahr 2015 in einem nicht katalogisierten Stapel Notenmaterial. Die erste Aufführung nach der Wiederentdeckung – und die zweite überhaupt – erlebte das Werk am 2. Dezember 2016 mit dem Orchester des Mariinski-Theaters unter der musikalischen Leitung von Valery Gergiev. Weitere Aufführungen folgten rasch in aller Welt.

Igor Strawinsky, Chant funèbre op. 5 (hr-Sinfonieorchester / Karina Cannellakis)

Der Chant funèbre kann kompositionstechnisch als Bindeglied zwischen Strawinskys spätromantischem Frühwerk und seinen Balletten der 1910er Jahre betrachtet werden. Angefangen mit L’Oiseau de Feu markieren letztere seinen Durchbruch als Komponist und setzten Maßstäbe für die Musik des frühen 20. Jahrhunderts. Die Wurzeln der wegweisenden harmonischen Neuerungen der Ballettmusiken lassen sich bereits im Chant funèbre entdecken. Flimmernde Streicherklänge eröffnen den Grabgesang, Bläser ergänzen sie mit chromatischen Harmonien, bis schließlich eine Kantilene des Horns erklingt. Nach Strawinskys eigener Aussage schreiten die einzelnen Instrumente anschließend zum Grab und legen dort ihre Melodien nieder. Diese beruhen allesamt auf der anfänglichen Kantilene des Horns. Durch Modulation, Artikulation und Instrumentierung wird das Thema stetig variiert, sodass es in immer neuer Gestalt erklingt. Die verminderte Skala, die Strawinsky gegen Ende des Werks verwendet, verweist auf die Harmonik seiner späteren Werke und eröffnet eine von Dur und Moll losgelöste Klangästhetik. Bereits Strawinskys Lehrer Rimskij-Korsakow experimentierte etwa in seiner Oper Sadko mit dieser Oktatonik. Auch an Richard Wagner erinnert der Grabgesang – vor allem die Streicher ähneln Siegfrieds Todesszene in der Götterdämmerung. Die kompositorische Nähe erklärt sich wohl durch die große Bewunderung für Wagner, die Strawinsky in seiner frühen Schaffensphase noch hegte. Gemeinsam mit Rimskij-Korsakow studierte er Wagners Werke und wohnte mehreren Aufführungen von dessen Opern bei. So würdigt Igor Strawinsky mit dem Chant funèbre das Erbe seines Lehrers gleichermaßen in symbolischer wie in musikalischer Hinsicht.

Dieser Text entstand als Programmheftbeitrag zu einem Konzert des hr-Sinfonieorchesters am 1. Arpil 2022 in der Alten Oper Frankfurt.