Werktextblog
Alle Artikel
Index: Komponist*innen und Werke

Privatsache im großen Stil

Wolfgang Amadeus Mozart: Messe c-Moll KV 427

30.06.2022 — von Debora Sanny Tio

Das Jahr 1781 markiert den Anfang von Mozarts turbulentem letzten Lebensjahrzehnt. Nach einem spannungsgeladenen Verhältnis zu Erzbischof Colloredo, seinem Dienstherrn am Salzburger Hof, wurde Mozart unehrenhaft vom Hof entlassen – der berüchtigte „Tritt in den Hintern“, wie er das Ereignis in einem Brief an seinen Vater Leopold beschrieb. Daraufhin versuchte er, sich als freischaffender Musiker in Wien zu etablieren – die äußerst erfolgreiche Oper „Entführung aus dem Serail“ stammt aus dieser Zeit. Mit dem Aufschwung seiner Karriere schien auch sein Privatleben aufzublühen: Schnell verliebte er sich in Constanze Weber, die dritte Tochter der musikbegeisterten Familie Weber, bei der er nach seiner Entlassung vom Hof Colloredos wohnte.

1782 heiratete er seine Geliebte trotz der stillschweigenden Missbilligung seines Vaters.

Constanze
Mozart Constanze Mozart, ca 1783 (Bild: Joseph Lange, Public domain, via Wikimedia Commons)

Die große Messe in c-Moll begann Mozart im Herbst/Winter 1782 in Wien zu komponieren, wenige Monate nach seiner Heirat mit Constanze. Er erwähnt die Messe erstmals in einem Brief an seinen Vater vom 4. Januar 1783, wo er auf ein besonderes Versprechen an seine Frau anspielt.

... wegen der Moral hat es ganz seine richtigkeit; - es ist mir nicht ohne vorsatz aus meiner feder geflossen - ich habe es in meinem herzen wirklich versprochen, und hoffe es auch wirklich zu halten. - meine frau war als ich es versprach, noch ledig - da ich aber fest entschlossen war sie bald nach ihrer genesung zu heyrathen, so konnte ich es leicht versprechen - zeit und umstände aber vereitelten unsere Reise, wie sie selbst wissen; - zum beweis aber der wirklichkeit meines versprechens kann die spart [Partitur] von der hälfte einer Messe dienen, welche noch in der besten hoffnung da liegt ...

Das prächtige Kyrie in c-Moll, das die Komposition eröffnet, verweist auf das gewaltige Werk, das noch folgen wird. Die beiden Hauptthemen des Satzes werden einander gegenübergestellt, wobei die Streicher das feierliche Hauptthema tragen und der volltönende Chor als kraftvoller Gegenpart fungiert. Im weiteren Verlauf der Musik verschmelzen die beiden Themen jedoch allmählich miteinander, bis sie kurz vor dem Auftritt des Sopransolos in einem harmonischen Einklang enden. Mit dem Eintritt des Sopransolos [03:25] ändert sich die Stimmung, denn Mozart lässt mit dem Gebet „Christe eleison“ zum ersten Mal Leichtigkeit durch die düstere Stimmung des Kyrie hindurchschimmern.

Die Komposition der Messe fiel in die Zeit der neu geschaffenen Gottesdienstordnung Josephs II. in Wien, die im Wesentlichen eine umfassende Verschlankung und Vereinfachung des religiösen Lebens forderte und im Geiste der Aufklärung einen rationaleren, pragmatischeren Umgang mit dem Christentum förderte. Natürlich umfassten diese Bestimmungen auch die Kirchenmusik, einschließlich der Reduzierung der Instrumentalbeteiligung (und in der Folge auch der Anzahl der Musiker). Außerdem musste die Messe gekürzt werden, und anstelle des traditionellen lateinischen Gesangs wurden deutsche Hymnen bevorzugt. Mozarts Vertonung der Messe, mit ihrer reichen Instrumentierung und ihren anspruchsvollen Partien, scheint von diesen Restriktionen jedoch unberührt, wenn nicht sogar völlig unbeeinflusst zu sein.

Die Komposition muss also eine rein persönliche Angelegenheit gewesen sein, und hatte wenig praktischen und vor allem finanziellen Nutzen. Da die Messe kein Auftragswerk ist, erhält Mozart kein Geld dafür, und die große Besetzung bedeutet, dass externe Verstärkung in Form von Orchestermitgliedern nötig war. In diesem Fall kam sie von Mozarts ehemaligen Kollegen an der Salzburger Hofkapelle – eine nicht ganz einfache Aufgabe, wenn man sein beschädigtes Verhältnis zu Colloredo bedenkt.

W.A. Mozart, Große Messe K. 427 (Kölner Kammerorchester / WDR Rundfunkchor / Christoph Poppen)

Das kontrastreiche Gloria ist der längste Satz einer Messe, den Mozart bis dahin geschrieben hatte. Das scharf punktierte „Gloria“ [08:33] sowie die Fanfarenmotive im „Gloria in excelsis“ stehen in der Tradition der Wortmalerei. Gleiches gilt für die absteigenden, chromatischen Linien, mit denen Mozart das Wort „Miserere“ [21:50] im „Qui tollis“ vertont. Der qualvolle, unerbittliche Orchestersatz verleiht dem Satz seine Gravitas, während der eindringliche Doppelchor mit langgezogenen Linien um Gnade fleht, die gelegentlich mit großer dramatischer Wirkung auf das leiseste Gebet reduziert werden.

Dass Mozart sich bei der Komposition seiner Messe von den Barockmeistern inspirieren ließ, war unbestreitbar – die Fülle der kontrapunktischen Strukturen und die Vielfalt der Stile sprechen für sich. Baron van Swieten, für den Mozart damals als persönlicher Kapellmeister tätig war, besitzt in seiner Privatsammlung eine beachtliche Anzahl von Werken Händels und Bachs, die Mozart selbst studierte und kopierte.

Gottfried van Swieten

Baron Gottfried van Swieten (Bild: C. Clavereau, Public domain, via Wikimedia Commons)

„Cum Sancto Spiritu”, das das „Gloria” abschließt, endet mit einem jubelnden „Amen” in C-Dur nach einem spannungsvollen Fugenaufbau, der die gesamte Bandbreite der technischen und dynamischen Möglichkeiten sowohl des Chors als auch des Orchesters ausschöpft.

Mozarts stilistische Erkundungen beschränken sich nicht auf Polyphonien und grandiose Affekte: Die großzügig über die Sätze verteilten Arien im italienischen Opernstil sind eine Hommage an den populären „galanten Stil“, mit dem Mozart zu dieser Zeit eng verbunden war. Unter diesen Arien stehen die Sopranarien eindeutig im Vordergrund – kein Wunder, war es doch Constanze, die bei der Uraufführung der Messe im Oktober 1783 im Salzburger Stift St. Peter die erste Sopransolopartie sang. Constanzes ältere Schwester, Aloysia Weber, die zu dieser Zeit eine erfolgreiche Karriere als Sängerin gemacht hatte, muss die andere Sopranstimme gesungen haben, der unter anderem das überschwängliche „Laudamus te“ gewidmet ist.

Vom „Credo“ hat Mozart nur das „Credo in unum Deum“ und das „Et incarnatus est“ fertiggestellt, wobei beide noch einer redaktionellen Überarbeitung bedürfen. Jahre später erzählte Constanze dem englischen Musikverleger Vincent Novello, dass Mozart die Messe als erneute Votivgabe für die sichere Geburt ihres ersten Kindes Raimund komponiert habe, der bei der Uraufführung des Werkes in Salzburg bereits zwei Monate tot gewesen sei. Es ist unmöglich zu verstehen, wie sich die beiden gefühlt haben müssen, als Constanze die ätherische Arie „Et incarnatus est“ bei der Uraufführung der Messe sang. Genauso unmöglich ist es, genau zu erfahren, warum Mozart die Messe nicht vollendet hat.

W.A. Mozart, Große Messe K. 427, Et incarnatus est (Bernstein, BRSO, Arleen Auger, 1990)

Das „Agnus Dei“ fehlt vollständig, das „Sanctus“ ist weitgehend intakt, aber viele Teile mussten rekonstruiert werden. Das „Hosanna in excelsis“, als Doppelfuge konzipiert, ist ein Hörgenuss in seiner reinsten Form [50:40]. Das „Benedictus“ steht im krassen Gegensatz zum großen „Hosanna“ mit seinem intimen Soloquartett und seinem warmen Charakter [52:24]. Mozart besteht jedoch darauf, den Satz mit einer feierlicheren Note abzuschließen, da die Chorausrufe des „Hosanna“ im „Benedictus“ wieder auftauchen und das Soloquartett unterbrechen [56:38].

Wenn es jemals eine wirkliche Unterscheidung zwischen „Kenner“ und „Nichtkenner“ im Musikgenuss gegeben hat, dann beweist Mozart, dass intellektueller Anspruch und Unterhaltsamkeit zwei Eigenschaften sind, die sich eigentlich nie widersprechen müssen. Alles ist angenehm im Ohr und doch tiefgreifend und fesselnd. Für einen Moment scheint die Kluft zwischen dem Menschlichen und dem Göttlichen weniger unendlich.

Dieser Text entstand für ein Konzerts des Hochschulchores und des Hochschulorchesters der HfMDK Frankfurt am Main am 1. und 2. Juli 2022 im Großen Saal der HfMDK.