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Liebesbriefe an Rom

Ottorino Respighi: Fontane di Roma und Pini di Roma

09.03.2022 — von Debora Sanny Tio

Ist es möglich, den Geist einer Stadt in ein Musikstück einzukapseln? Ottorino Respighi hat vielleicht eine Antwort. Vor etwa einem Jahrhundert schuf er sein wohl bekanntestes Werk: die Römische Trilogie – drei grandiose orchestrale Tondichtungen, die jeweils die Brunnen, die Pinien und die Feste Roms zelebrieren.

Der 1879 in Bologna geborene Respighi begann seine professionelle Ausbildung als Geiger (und Bratschist) am Liceo Musicale seiner Heimatstadt, wo er auch Komposition studierte. Kurz vor dem Abschluss seines Studiums, um die Jahrhundertwende, nahm Respighi dann die Stellung des Hauptbratschisten am Russischen Kaiserlichen Theater in Sankt Petersburg an. Während dieser Zeit wurde er auch Schüler Rimski-Korsakows, der sich als einer seiner wichtigsten Mentoren erweisen sollte. Seine Zeit in Russland sollte ihn für den Rest seines Lebens mit einer Vorliebe für alles Russische prägen – die Sprache, die Kultur und natürlich die Musik. Die Gesänge der russisch-orthodoxen Kirche sowie der Einfluss und das Erbe seines Mentors, die sich am deutlichsten in Respighis schillernden und farbenfrohen Orchestrierungen zeigen, hinterließen unauslöschliche Spuren in seinen Werken.

Ottorino Respighi 1912

Ottorino Respighi im Alter von 32 Jahren, 1912 (Bild: AlbertoBattaglia1989, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons)

Es war reiner Zufall, dass Respighi in Rom landete: Nach seiner Rückkehr aus Russland hatte er trotz seiner wachsenden Popularität als Komponist und Verteidiger alter Musik Schwierigkeiten, eine Festanstellung an seiner Alma Mater in seiner Heimatstadt Bologna zu erhalten. Als ihm das Liceo St. Cecilia in Rom 1913 eine Festanstellung anbot, zog er um. Zwischen Respighi und Rom war es keine Liebe auf den ersten Blick. Anfangs war der Komponist entnervt vom endlosen Rauschen und Treiben der Ewigen Stadt, eingeschüchtert von der enormen Größe all dessen, was ihn umgab. Aber Respighi, ein Liebhaber von Büchern, schönen Künsten und Antiquitäten – seine neue Wohnung in Rom war von Wand zu Wand mit Wörterbüchern und Atlanten ausgekleidet – fand bald in der reichen Geschichte und dem kulturellen Erbe der Stadt ein neues Zuhause. Er blieb dann bis zu seinem Tod im Jahr 1935 in Rom.

Mit mehr als 2000 großen und kleinen Brunnen, von denen viele bereits seit der römischen Antike existieren, ist Rom mehr als nur dekorationsmäßig gut bestückt. Die Brunnen versorgen die Stadt seit über 2000 Jahren mit Trinkwasser und sind für das römische Leben von zentraler Bedeutung.

Der erste Teil der Trilogie, Fontane di Roma, wurde 1917 fertiggestellt. Die vier Sätze des Stückes, die ohne Zwischenpausen gespielt werden, stellen jeweils einen Brunnen der Stadt zu verschiedenen Tageszeiten dar.

Ottorino Respighi: Fontane di Roma (Chicago Symphony Orchestra / Fritz Reiner, 1959)

Das Stück beginnt mit dem Brunnen von Valle Giulia in der Morgendämmerung, und beschreibt eine „pastorale Szene mit Schafen, die im frischen, feuchten Nebel einer römischen Morgendämmerung vorbeiziehen und verschwinden“. Für die Internationale Kunstausstellung 1911 wurde Valle Giulia zum Standort der Nationalgalerie für Moderne Kunst, gefolgt von einer Neugestaltung der umliegenden Landschaft. Obwohl das Tal „Valle Giulia“ als solches zur Zeit der Komposition kaum zu erkennen war, beschwören die melismatischen Holzbläsermelodien trotzdem mit ihrem sinnlichen Spiel in Dur und Moll sofort die Anwesenheit eines einsamen Hirten herauf, während die Schafe durch die schimmernden Viehglocken der Schlagzeuggruppe des Orchesters auf sich aufmerksam machen.

Der nächste Satz ist von der morgendlichen Fontana del Tritone aus dem siebzehnten Jahrhundert inspiriert. Hier entführt uns Respighi in die Welt der mythologischen Fantasie, indem er das magische Schneckenhorn des Meeresgottes Triton zum Leben erweckt, verkörpert durch die Rufe des Horns: „ein freudiger Aufruf an Najaden und Tritonen, die einander verfolgen und sich in einem wilden Tanz unter der herabfallenden Gischt vermischen“.

Fontana del Tritone

Fontana del Tritone, 2018 (Bild: Andre.o.mob, CC BY-SA 4.0, via Wikimedia Commons)

Der dritte Satz, „Der Trevi-Brunnen in der Mittagsonne“, setzt das mythologische Thema fort. Neptuns Wagen liefert sich eine Verfolgungsjagd mit strahlenden, wellenartigen Melodien, bevor er „verschwindet, während in der Ferne gedämpfte Glockenschläge erklingen“. Der weltbekannte Brunnen, mit dem nicht minder bemerkenswerten Palazzo Poli im Hintergrund, ist ein gigantisches Bauwerk, so hoch und so breit wie mancher Kirchenraum – ein spätbarockes Meisterwerk, dessen Fertigstellung eine ganze Generation währte.

Fontana di Trevi

Fontana di Trevi (Bild: Morgaine, CC BY-SA 2.0, via Wikimedia Commons)

Respighi schließt das Stück mit einer ruhigen Szene am Brunnen der Villa Medici bei Sonnenuntergang ab. Vielleicht ist es dieser Satz, wo man die Fontana im physischen Sinne des Wortes am lebhaftesten spüren kann. Die Abwesenheit von Menschen (oder mythischen Wesen) spiegelt sich in der ungewöhnlichen Gelassenheit und Nachdenklichkeit der Musik wider – der von Menschenhand geschaffene Brunnen bei Sonnenuntergang ist zu einem echten Teil von Mutter Natur geworden. Respighi hat das leise Plätschern des Brunnens im glitzernden, sanft kaskadierenden Klang der Celesta perfekt eingefangen. Im Mittelteil dieses Satzes erklingt „Vogelgezwitscher, begleitet vom Rascheln und Flattern der Blätter“, wie es der Komponist beschreibt. Die endgültige Wiederkehr des Hauptthemas ist mit „Glockengeläut zum Angelus“ gekennzeichnet, und die Musik versinkt allmählich in der Stille der Nacht.

Salomon Corrodi, Blick über Rom vom Brunnen der Villa Medici

Salomon Corrodi, Blick über Rom vom Brunnen der Villa Medici (ca 1850, gemeinfrei via Wikimedia Commons)

Im Jahr 1921 zogen Respighi und seine Frau Elsa in ihre neue Wohnung im Palazzo Borghese in Rom, die sie I Pini nannten. Und nur drei Jahre später vollendete er Pini di Roma, den zweiten Teil der römischen Trilogie, die vom Orchester der Accademia Nazionale di Santa Cecilia in Auftrag gegeben wurde. Die römischen Pinien, oder Pinus pineae, wie sie auf Lateinisch heißen, mit ihren königlichen, schirmartigen Kronen wurden erstmals während der römischen Republik (509 bis 27 v. Chr.) – eines der frühesten Beispiele für repräsentative Demokratie – in Rom gepflanzt. Sie spenden mit ihren hohen Kronen nicht nur Schatten, sondern auch essbare Pinienkerne.

Hendrik Voogd, Italienische Landschaft mit Pinien

Hendrik Voogd, Italienische Landschaft mit Pinien (1807, gemeinfrei via Wikimedia Commons)

Wie das Vorgängerwerk besteht auch Respighis Pini di Roma aus vier Sätzen, die Pinien an vier verschiedenen Orten und zu verschiedenen Tageszeiten darstellen. Aber anders als in Fontane, wo Respighi „mit Hilfe von Tönen einen Eindruck der Natur wiedergeben wollte“, benutzt er in Pini die Natur, „um Erinnerungen und Visionen wachzurufen“, da die alten Bäume „Zeugnis für die wichtigsten Ereignisse im römischen Leben ablegen“.

Ottorino Respighi: Pini di Roma (NBC Symphony Orchestra / Arturo Toscanini, 1952)

Der erste Satz, I pini di Villa Borghese, beginnt mit einem spektakulären Schillern von Glissandi und Trillern. Wir finden uns in der Mitte der Pinien an einem sonnigen Tag im Park der Villa Borghese wieder. Das Gelände ist heuzutage eine der größten öffentlichen Grünflächen in Rom und umfasst mehrere Gebäude und Museen. Sie wurden ursprünglich auf Initiative von Scipione Borghese (1577 – 1633) errichtet, der seinen Weinberg in eine private Festvilla umwandeln wollte. Er war Kunstsammler und Kardinal – Neffe von Papst Paul V. – und gehörte zu seiner Zeit zu einer der einflussreichsten Familien in Rom.

In Respighis Musik spielen Kinder im Hof der Villa, sie „ahmen marschierende Soldaten und Schlachten nach, zwitschernd und kreischend wie Schwalben“. Die wichtigsten Melodien des Satzes übernahm er aus populären Kinderreimen, die ihm seine Frau Elsa vorgeschlagen hatte. Das unschuldige Kinderspiel geht schließlich in eine ausgelassene Kakophonie über, die im vierfachen Forte (ffff) abrupt endet.

Im darauf folgenden I pini presso una catacomba taucht Respighi ab in die Tiefen eines unterirdischen römischen Leichenzugs, die Trauernden trösten sich mit Hymnen und Gesängen.

Der dritte Satz, I pini del Gianicolo, spielt in der Nacht, die Pinienbäume „treten im klaren Licht des Vollmonds deutlich hervor“. Der aufgenommene Gesang einer echten Nachtigall – eine Novität in der Musikgeschichte – begleitet das Hauptthema, als es zum letzten Mal erklingt, bevor der Satz zu Ende geht.

Richard Wilson, St Peters and the Vatican from the Janiculum

Richard Wilson, St Peters and the Vatican from the Janiculum (1856, gemeinfrei via Wikimedia Commons)

In seinen Anmerkungen zum letzten Satz des Werks, I pini della Via Appia, schildert Respighi die fantastische Vision eines Dichters von einem Heer der Konsuln, das im Nebel der Morgendämmerung marschiert und „im Glanz der gerade aufgegangenen Sonne zur Heiligen Straße aufbricht und im Triumph zum Kapitol aufsteigt“.

Via Appia antica

Via Appia Antica (1900, gemeinfrei via Wikimedia Commons)

Dass der Satz nur kurz nach dem Marsch der Faschisten auf Rom 1922 komponiert wurde, gibt Anlass zum Argwohn. Wollte Respighi den neuen Machthabern die Ehre erweisen? Doch es war Arturo Toscanini, ein bekannter Antifaschist, der sich für das Stück einsetzte und die amerikanische Erstaufführung mit großem Erfolg dirigierte. Zu seiner Zeit konnte Respighis Interesse am kulturellen Erbe Italiens leicht als eine Form von übereifrigem Patriotismus aufgefasst werden. Dennoch hatte Respighi lange vor Mussolinis Machtübernahme begonnen, verschiedene Orchestertranskriptionen der Werke vergangener italienischer Meister wie Vivaldi, Monteverdi und Frescobaldi sowie Transkriptionen alter Tänze und Lautenstücke aus der Renaissancezeit zu verfassen.

Ottorino Respighi: Antiche Danze ed Arie per liuto, Suite Nr. 1 P 109 (1917) (Los Angeles Chamber Orchestra / Sir Neville Marriner)

Sowohl Fontane als auch Pini di Roma besitzen eine inhärente filmische Kraft, auch wenn sie keine feste Erzählung haben – die klangvolle Unmittelbarkeit der Orchestrierung, die lebendige Beschwörung von Sinneswahrnehmungen, das Nebeneinander von Zeit und Raum zwischen den fortlaufenden Sätzen bieten eine Erfahrung, die einer Zeitreise nicht unähnlich ist.

Auch wenn Respighis Ruf in den Jahren nach dem Krieg aufgrund der Vereinnahmung seiner Musik durch das faschistische Regime gelitten hat, machen beide Stücke immer noch Staunen und sind bei Interpreten und Publikum gleichermaßen beliebt. Die Stücke sind nicht nur der Stadt zu verdanken, die sie inspiriert hat, sondern auch der Fähigkeit des Komponisten, die ikonischen Merkmale Roms mit so viel Aufmerksamkeit, Fantasie und vor allem Zuneigung zu würdigen. Denn wie könnte man den Ort, an dem man lebt, besser ehren, als ihm nicht nur einen, sondern gleich drei epische orchestrale Liebesbriefe zu schreiben?

Quellen:
Respighi, Elsa, His Life Story, London 1962
Respighi, Ottorino, Fontane di Roma, Mainz 2010
Respighi, Ottorino, Pini di Roma, Mainz 2009
Webb, Michael, Ottorino Respighi: His Life and Times, England 2019

Dieser Text entstand als Programmheftbeitrag zu einem Konzert des hr-Sinfonieorchesters am 11. März 2022 in der Alten Oper Frankfurt.