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Index: Komponist*innen und Werke

Das verschwundene Violinkonzert

Bohuslav Martinů: 1. Violinkonzert

09.12.2021 — von Anne Ilic

Lange Zeit galt das 1. Violinkonzert von Bohuslav Martinů als verschollen. Erst 1973, fast fünfzig Jahre nach seiner Fertigstellung, wurde es in Chicago uraufgeführt, nachdem es in den 1960er-Jahren wiederentdeckt worden war.

Bohuslav Martinů: 1. Violinkonzert (Josef Suk/Tschechische Philharmonie/Václav Neumann)

Als Bohuslav Martinů mit 33 Jahren nach Paris zog, nahm er dort Kompositionsunterricht bei Albert Roussel und setzte sich mit dem Impressionismus und dem Neoklassizismus, dem Barock und der Renaissance, aber auch mit dem Jazz auseinander. Hier komponierte er in den Jahren 1933/34 im Auftrag des Geigers Samuel Dushkin (1891 - 1976) sein 1. Violinkonzert.

Samuel Dushkin

Samuel Dushkin (Sammlung George Grantham Bain, Library of Congress)

Schon Igor Stravinsky hatte im Jahr 1931 für diesen Virtuosen ein Konzert geschrieben. Martinů erhoffte sich daher von dieser Auftragskomposition größere Berühmtheit. Doch der Schaffensprozess erwies sich komplizierter als gedacht. Wie bei Strawinskys Komposition wollte Dushkin auch bei Martinůs Violinkonzert mitsprechen. Im Gegensatz zu Strawinsky war Martinů jedoch selber professioneller Violinist, mit sieben Jahren hatte er das Geigespielen begonnen und war einige Zeit Mitglied der Tschechischen Philharmonie.

Samuel Dushkin

Bohuslav Martinů, 1942 (Quelle: Bohuslav Martinů Center Policka, CC BY-SA 3.0 CZ, via Wikimedia Commons)

Dushkin forderte immer wieder Revisionen am Konzert. 1933 nahm er das Stück auf eine Amerika-Tournee mit. Doch statt mit einer/der Premiere im Gepäck kam er mit neuen Wünschen zurück: Anscheinend war ihm das Konzert noch immer nicht virtuos genug.

Diese außerordentliche Virtuosität zeichnet das 1. Violinkonzert Martinůs auch aus: Über dreistimmige Akkorde und halsbrecherisch weite Intervallsprüngen bis hin zu Schlagzeugeffekten kann der Interpret seine technische Brillianz zeigen. Dass Martinů sich von böhmischer Tanzmusik inspirieren ließ, zu der metrische Verschiebungen gehören, macht die Sache nicht einfacher. Wie in all seinen Werken zeigt sich auch hier die Wandelbarkeit der Musik Martinůs.

Doch warum Dushkin es nie aufführte, ist unbekannt. Als die deutschen Nationalsozialisten in Frankreich einmarschierten, flüchtete Martinů mit seiner Frau in den Jahren 1940/41 in mehreren Etappen in die USA und nahm nur das Nötigste mit. Die Partitur des 1. Violinkonzerts blieb in Europa.

"Pure Freude": Der Geiger Frank-Peter Zimmermann spricht im Interview über Martinůs Violinkonzerte.

Dieser Text entstand als Programmheftbeitrag zu Konzerten des hr-Sinfonieorchesters am 16. und 17. Dezember 2021 im hr-Sendesaal.