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Als Karnevalist tierisch gefeiert, als Organist vernachlässigt

Camille Saint-Saëns: Orgelmusik

03.12.2021 — von Veit Pitlok

Groß ist die Begeisterung für den „Carnaval des animaux“, dem „Karneval der Tiere“, und ich muss sagen: völlig zu Recht! So gut erzählte musikalische Witze muss man erstmal fertigbringen. Hier möchte ich aber eine Seite von Camille Saint-Saëns vorstellen, die sonst wenig Beachtung erfährt. Und diese fehlende Aufmerksamkeit geht vor allem zu Lasten eines anderen Teils seines Gesamtschaffens. In diesem Blog haben wir mit der Sonate für Oboe und Klavier op. 166 bereits einen von zahlreichen selten zu hörenden Schätzen kennengelernt, die wir in Saint-Saëns’ Werkliste finden können. Und ich finde, seine Schätze sollen nicht nur anlässlich eines Jubiläums wie beispielsweise seines 100. Todestages am 16. Dezember 2021 ausgegraben werden – sondern eben auch zwischendurch. Schließlich sollen sie mit ihrem Charme vielmehr bei den vielfältigen Möglichkeiten des heutigen Musiklebens selbst lebendig sein.

Neben Kammermusik beherrschte Saint-Saëns auch die große Form und schuf mit der Oper „Samson und Dalila“ einen noch heute populären Beitrag zum Musiktheater. Seine Orgelsinfonie hat ihren festen Platz im Standardrepertoire groß besetzter Sinfonien. Dieses Werk mag ein Beispiel sein, in welchem die Orgel vor allem im Finalsatz eine prominente Rolle einnimmt. Jedoch ist diese imposante und originelle Komposition aus meiner Sicht kein konzertantes Stück für Orgel und Orchester in engerem Sinne, in welchem eine Orgelsolistin oder ein Orgelsolist von vorne herein die Protagonistenrolle übernimmt – dass bei Aufführungen der Orgelsinfonie die Orgelsolisten trotzdem in den Programmen genannt werden, ist dennoch eine schöne Geste für Menschen, die sonst häufig auf Emporen zur Anonymität verdammt sind.

Camille Saint-Saëns selbst war ein versierter Organist und komponierte ein äußerst dankbares Œuvre für dieses mächtige und ausdrucksstarke Instrument. An der Pariser Kirche La Madeleine arbeitete er zwanzig Jahre lang als Organist und spielte dort eine Orgel, die vom legendären französischen Orgelbauer Aristide Cavaillé-Colle erbaut wurde.

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Die Cavaillé-Coll-Orgel in der Kirche La Madeleine in Paris, an der Camille Saint-Saëns 1857–77 spielte. (Foto: Mbzt, CC BY 3.0, via Wikimedia)

Der von Cavaillé-Coll entwickelte Orgeltypus ist der Inbegriff der französisch-romantischen Orgel und als die instrumentenbau-technische Voraussetzung für den Stil der französischen Orgelmusik des 19. Jahrhunderts in die Geschichte eingegangen. Interessanterweise fällt bei Saint-Saëns’ Orgelwerken auf, dass er nicht in gleicher Weise wie z.B. andere bedeutende Orgelkomponisten Frankreichs Anweisungen zur Registrierung und damit klanglichen Gestaltung der Orgelkompositionen dem Notentext voranstellt.

César Franck, Prélude, Fugue et Variation

Beginn von César Francks Prélude, Fugue et Variation, das Franck Saint-Saëns widmete. In dieser Notenedition sind die französischen Registrieranweisungen direkt vor dem Notentext zu finden. (Notenbeispiel: gemeinfrei)

Sind entsprechende Anweisungen z.B. bei César Franck oder Charles-Marie Widor streng zu befolgen, um das authentische Klangideal ihrer Werke so originalgetreu wie möglich wiederzugeben, beschränkt sich Saint-Saëns meistens auf dynamische Angaben, also auf die Lautstärke einer Registrierung und weniger auf die Klangfarbe. Diese bleibt zunächst den interpretierenden Organisten überlassen.

Camille Saint-Saëns, Prélude et Fugue op. 99,1

Der Beginn von Prélude et Fugue op. 99,1; es sind keine expliziten Registrieranweisungen wie im obigen Beispiel von César Franck angegeben. (Notenbeispiel: gemeinfrei)

Jedoch schreibt er an bestimmten Stellen präzise Registrieranweisungen, wo sie für seine Musik offensichtlich besondere Bedeutung haben.

Camille Saint-Saëns, Rhapsodie op. 7, 2

Über den Noten ist vermerkt, dass das Register „voix humaine“ gezogen werden soll. (Faksimile von Saint-Saëns’ Rhapsodie op. 7/2, gemeinfrei)

Camille Saint-Saëns, Rhapsodie op. 7, 2

Hier findet sich über dem Notentext die Anweisung, dass ohne „voix humaine“ gespielt werden soll. (Faksimile von Saint-Saëns’ Rhapsodie op. 7/2, gemeinfrei)

Die Flexibilität in der Registierung bietet Chancen: Ich bin als Organist nicht darauf festgelegt, seine Musik nur auf einer kleinen Auswahl von Orgeln spielen zu können.

Denn es gibt eine beachtliche Vielfalt an Stilen im Orgelbau und in der Orgelmusik, die sowohl mit Epochen als auch mit geographischen Räumen verbunden sind; dementsprechend spricht man auch von den sogenannten Orgellandschaften. Symbiosen zwischen verschiedenen Orgeltypen gibt es auch und mit jedem Orgelneubau entsteht ein neues Individuum, das Klangfarben bietet, über die eine andere Orgel nicht verfügt, oder umgekehrt etwas nicht hat, was in einer anderen Orgel vorhanden ist. Je spezifischer die Angaben zur Registrierung sind und höher der Anspruch, ihnen gerecht zu werden (diesem Anspruch will man heute im Sinne der sogenannten historischen Aufführungspraxis und Werktreue gerecht werden), desto eher kann es passieren, dass ein Orgelstück auf einer bestimmten Orgel nicht gespielt werden kann. Der Vorteil eben in den Orgelwerken von Saint-Saëns liegt deshalb darin, dass mehr Orgeln für eine überzeugende Darbietung seiner Orgelstücke in Frage kommen, sodass sie auch häufiger gehört und genossen werden können. Zugleich fühle ich mich als Interpret mit einem Freiraum beschenkt, in dem ich meine eigenen musikalischen Vorstellungen in einem größeren Rahmen verwirklichen kann. Eine klangliche Orientierung bietet für mich dabei die Orchestermusik der französischen Romantiker, eben auch die Orchestermusik von Saint-Saëns selbst. Dabei strebe ich subtile Schattierungen in Klangfarbe und Dynamik an und „orchestriere“ meine eigenen kleinen Arrangements von Saint-Saëns’ Orgelstücken an der jeweiligen Orgel, die ich antreffe.

Französische Sinfonik scheinen mir seine Orgelstücke klanglich zu sein, kompositionstechnisch schafft er aber eine fruchtbare Symbiose aus Altem und Neuem. Eine schon lange vor Saint-Saëns bestehende Gattung ist die Fantaisie (Fantasie). Eines seiner am häufigsten gespielten – wenn nicht das am häufigsten gespielte solistische Orgelstück von Saint-Saëns – ist die Fantaisie in Es-Dur (ohne Opuszahl).

Camille Saint-Saëns, Fantaisie Es-Dur (Brink Bush, Orgel)

Der Bezug zu alten Vorbildern kann bei Saint-Saëns’ Orgelstücken auch in der Gattung Prélude et Fugue und damit im Vorbild Johann Sebastian Bach und dessen Präludien und Fugen gesehen werden. Saint-Saëns schrieb sechs Beiträge zu dieser musikalischen Gattung und führte somit die Tradition fort. Aber eine (Weiter-)Entwicklung ist nicht zu leugnen; schließlich standen Saint-Saëns Instrumente seiner eigenen Zeit zur Verfügung, die Spieltechnik ist stark vom Pianoforte und nicht mehr vom Cembalo beeinflusst: Während im barocken Orgelspiel ein filigranes Fingerspiel und die Verbindung der Töne von subtil bemessenen Abständen zwischen den Tönen als Regelfall ausgeht, geht das romantische Orgelspiel vom Legato-Spiel als Regel aus; dazu kommt der vermehrte Einsatz von Arm und Körpergewicht an Stelle der barocken Finger-Filigranität. Die Ästhetik einer romantischen bürgerlichen Musikkultur ist vor allem in den formal und satztechnisch freier gestalteten Werken Saint-Saëns’ nicht zu überhören. Die häufig mit der Orgel und Johann Sebastian Bach assoziierte Strenge im musikalischen Satz und im daran gekoppelten formalen Verlauf findet sich am ehesten in der Fugue bzw. der Fuge wieder. In dieser Gattung lebt der traditionelle Kontrapunkt wieder auf und der gleichzeitig so kreative Saint-Saëns greift auch auf traditionelle weitgehend standardisierte Modelle zurück. Aber er belässt es nicht bei Stilkopien und arbeitet auch pointiert mit harmonischen Überraschungen sowie dynamischen Abwechslungen, die seine Musik sehr kurzweilig werden lassen.

Obwohl er allgemein und gerade in Bezug auf seine Orgelstücke als Traditionalist gesehen wird, finden sich in seinem Schaffen überzeugende Beispiele, die doch sehr gekonnt neue Trends aufnehmen. Er arbeitet mit Stilmitteln, die unter anderem bei Claude Debussy vorkommen. Dennoch bleibt Saint-Saëns dahingehend traditionell, dass er das tonale Zentrum nicht zu Gunsten neuer Klangentwürfe aufgibt.

Camille Saint-Saëns, Improvisation op. 150, Nr. 1 (Robert Delcamp, Orgel)

Zum Vergleich folgt ein Beispiel aus Claude Debussys Klaviermusik, das wie Saint-Saëns’ erste „Improvisation“ wesentlich auf der Klangcharakteristik der Ganztonleiter beruht:

Claude Debussy: Voiles

Saint-Saëns pflegte die Improvisation an der Orgel und damit einen wichtigen Bestandteil der Orgelmusik. In der Improvisation etwa über gregorianische Melodien findet er einen Platz für seine musikalischen Einfälle. Sieben seiner Kompositionen tragen nicht von ungefähr den Namen „Improvisations“. Diese sieben Stücke können auch als Quelle von Anregungen dienen, wenn man als Organist auf die Suche nach Ideen für Improvisationen im Gottesdienst oder Konzert gehen möchte.

Camille Saint-Saëns, Improvisation Nr. 7 (Daniel Roth, Orgel)

Ich sehe in Saint-Saëns’ Orgelstücken feine Kunstwerke, die aus meiner Sicht viel zu selten aufgeführt werden. Dabei sind sie doch so oft realisierbar. Ich freue mich, dass ich zusammen mit Kolleginnen und Kollegen eine Auswahl Saint-Saëns’scher „Orgelperlen“ in der letzten mainzer orgel komplet des Jahres 2021 präsentieren darf. Diese Orgelstücke werden nicht nur als satztechnische Meisterwerke zur Geltung kommen. Alle Hörerinnen und Hörer werden sie darüber hinaus in ihrer Schönheit lieben und ihre vorweihnachtliche Freude haben. Für mich besteht damit die Hoffnung, dass Saint-Saëns’ Orgelmusik ein fester Bestandteil des Standardrepertoirs wird.

Der Beitrag entstand als Einführung zu einem Konzert der Reihe mainzer orgel komplet. Der Autor spielt als Solist am 7. Dezember 2021 Werke von Camille Saint-Saens.