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Index: Komponist*innen und Werke

Die Musterschülerin Max Regers

Johanna Senfter: Drei Klavierstücke op. 83

21.10.2021 — von Anne Ilic

Wer komponierte neun Sinfonien? Beethoven, klar. Mahler auch, zählt man nur die Vollendeten. Bruckner kam ebenfalls nicht über die Neunte hinaus. Aber auch Johanna Senfter schrieb insgesamt neun Sinfonien.

Wer? Johanna Senfter? Nie gehört. So wie mir geht es wahrscheinlich vielen, die diesen Namen lesen. Fanny Hensel und Clara Schumann – diese Komponisitinnen sind oft noch bekannt, Johanna Senfter aber nicht. Das ist besonders erschreckend, wenn man sich ihr Œuvre anschaut: 134 Werke mit Opuszahl stammen aus ihrer Feder, dazu kommen nochmal 27 ohne Opuszahl. Johanna Senfter komponierte ihr Leben lang und wurde von ihren Kollegen hoch geschätzt. Dennoch wurden zu ihren Lebzeiten nur wenige Werke gedruckt, und auch heute noch ist ihre Arbeit nicht komplett erschlossen.

Alles begann am 27. November 1879 in der Weinstadt Oppenheim am Oberrhein, als die kleine Johanna als jüngstes von sieben Kindern zur Welt kam. Schon früh zeigte sich ihre musikalische Begabung, die direkt von den musikliebenden Eltern gefördert wurde. Denn sie hatte das Glück, in eine wohlhabende Familie geboren worden zu sein: Ihr Großvater mütterlicherseits, Friedrich Koch (1786-1865) hatte ein Arzneimittel gegen Malaria entwickelt. Diese Krankheit, die wir für gewöhnlich eher aus Nachrichten über tropische Regionen kennen, gab es nämlich damals auch in Oppenheim. Durch die Produktion des Arzneimittels konnte er viel Geld verdienen. Und auch Johanna Senfters Vater war vermögend. So konnten alle sieben Kinder eine musikalische Erziehung im Klavierspiel und im Gesang genießen.

Ein erster großer Einschnitt in ihrem Leben war eine Diphterie-Erkrankung, von der sie sich nur schwer erholte. Erst mit 13 Jahren war sie wieder genesen und kam auf ein Mädchenpensionat. Dennoch blieb sie ihr Leben lang krankheitsanfällig.

1895 begann sie ein Musikstudium am Dr. Hoch’s Konservatorium in Frankfurt am Main. Dort studierte sie Musiktheorie und Komposition bei Iwan Knorr, Geige bei Adolf Rebner, Klavier bei Karl Friedberg sowie Orgel bei Prof. Heinrich Gelhaar. Mit 23 Jahren schloss Senfter das Studium mit hervorragenden Noten ab.

Anschließend verbrachte sie einige Jahre in Oppenheim auf dem Familiengut Sparrhof, bis sie 1907 ein Jahr Privatunterricht bei Max Reger nahm, bei dem sie anschließend auf seine Empfehlung ab 1908 am Leipziger Konservatorium studierte:

Sehr geehrter Herr!

Ihr Fräulein Tochter ist nun geraume Zeit meine Schülerin gewesen, hat in dieser Zeit solch außerordentliche Fortschritte gemacht, dass es geradezu eine Pflicht der Notwendigkeit ist, die Ausbildung Ihrer Fräulein Tochter ganz zu vollenden. Ich kann Ihnen also in Anbetracht der ausgezeichneten musikalisch-kompositorischen Begabung Ihrer Fräulein Tochter nur folgende Rat ertheilen, dass Ihr Fräulein Tochter am kommenden 1. Oktober in meine Theorie = resp. Kompositionsklasse am hiesigen königl. Konservatorium der Musik eintritt u. da noch 1 Jahr meinen Unterricht genießt. Wie gesagt: in Anbetracht der außerordentlichen kompositorischen Begabung Ihrer Frl. Tochter wäre es eine Sünde, die Begabung nicht voll u. ganz zur Entwicklung zu bringen. – Ich hoffe sehr, dass Sie meinem Rate folgen werden u. bitte Sie mir recht baldigst Ihren hoffentlich zusagen – den Bescheid zukommen zu lassen.

Mit höflichsten Empfehlungen

Ihr ergebenster

Prof. Max Reger

Max Reger

Max Reger (1907, gemeinfrei)

Als Klassenbeste schloss sie das Kompositionsstudium 1910 mit dem Arthur-Nikisch-Preis für ihre Violinsonate G-Dur op. 6 aus dem Jahr 1909 erfolgreich ab.

Fräulein Senfter besitzt ganz außerordentliche Begabung für Komposition und hat demnach bei sehr großem Fleiße überraschend gute Resultate in der Komposition erzielt. […]

Professor Dr. Max Reger

Zeugnis ihres Lehrers Max Reger aus dem Jahr 1909

Wieder nach Oppenheim zurückgekehrt arbeitete sie dort von nun an als freischaffende Komponistin, Musiklehrerin und Musikerin.

Bis zu Regers Tod 1916 standen sich die beiden Familien Senfter und Reger nahe. Sie verbrachten sogar einmal gemeinsame Ferien miteinander. Reger versuchte, sie bestmöglich zu fördern und bekannter zu machen.

Nach seinem Tod begann eine musikalisch besonders aktive Phase: Johanna Senfter war kompositorisch sehr produktiv und konzertierte häufig. Im Jahr 1921 gründete sie den Musikverein Oppenheim, 1923 den Oppenheimer Bach-Chor, mit dem sie regelmäßig Bach-Kantaten aufführte. Durch die Inflation, die das Familienvermögen fraß, musste sie aber auch unterrichten.

Die Drei Klavierstücke op. 83 entstanden in den Jahren 1937/38. Etwa aus dieser Zeit könnte dieses Porträt stammen. Trotz ihrer späten Entstehungszeit sind sie weiterhin im tonalen Bereich, den Johanna Senfter als Schülerin Max Regers, der für sie ein Vorbild war und blieb, nie verließ. Ihr Leben lang verschloss sie sich der Zwölftontechnik, experimenteller Musik und serieller Technik. Ihre Vorbilder fand sie besonders im Barock.

Im spätromantischen Stil komponiert, sind die drei Klavierstücke ausgesprochen expressiv und komplex. Senfter kostet den gesamten Tonvorrat des Klaviers aus, auch wenn sie sich auf den mittleren und oberen Teil fokussiert.

1. Gemächlich (F-Dur)

Johanna Senfter, Drei Klavierstücke op. 83, 1. Gemächlich (Monica Gutman)

2. Ziemlich ruhig (H-Dur)

Johanna Senfter, Drei Klavierstücke op. 83, 2. Ziemlich ruhig (Monica Gutman)

3. Wiegenlied (G-Dur)

Johanna Senfter, Drei Klavierstücke op. 83, 3. Wiegenlied (Monica Gutman)

Wie ihre gesamte Klaviermusik wurden auch die drei Stücke erst nach ihrem Tod gedruckt.

Nach dem Zweiten Weltkrieg zog sie sich immer mehr zurück. Ihr einziger Wunsch war es, dass ihre Musik gespielt wurde:

Hört und spielt meine Musik, dann versteht ihr mich

Doch das war kaum mehr der Fall. Durch ihren spätromantischen Stil bestand wenig Interesse an ihren Kompositionen. Zudem bezeichnete sie selbst nach dem Zweiten Weltkrieg ihre Werke als „schwer zugänglich“.

Um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, musste sie daher viel unterrichten. Dazu kam, dass ausgebombte Familien auf ihrem Familienanwesen, das vom Krieg verschont worden war, einquartiert wurden. Dennoch komponierte sie weiter. An Hans Fleischer, ihren engsten Vertrauten, schrieb sie im September 1946:

Wenn ich die [Klavier- und Geigenschüler] nicht hätte und die vielen Laufereien, ging es zur Not noch, aber so kann ich unmöglich zum Schreiben kommen. Da können sie sich denken, dass mein musikalisches Schaffen ganz in den Hintergrund getreten ist. Nur sonntags benutze ich die Ruhe und schreibe auf, was mir trotz allem im Kopf herumspukt.

Ihr Großneffe Hermann Senfter erinnerte sich an seine Großtante, wie er im Jahr 1947 zusammen mit seinen Eltern und seinen drei Geschwistern zu ihr nach Oppenheim kam:

Sie fürchtete Unruhe, war schrullig, aber auch eine stattliche Erscheinung.

Am 11. August 1961 starb sie mit 81 Jahren und geriet noch mehr in Vergessenheit. Doch inzwischen wird sie aus dieser mehr und mehr wieder hervorgeholt. In Oppenheim, in dem es lange nur eine nach ihr benannte Straße gab, wurde vor einigen Jahren die Johanna-Senfter-Gesellschaft gegründet, die sich dem Ziel verschrieben hat, diese Komponistin in der Öffentlichkeit mehr präsent zu machen. Ihr Nachlass befindet sich im Archiv der Musikhochschule Köln, nach und nach druckt u.a. der Schott-Verlag immer mehr ihrer Werke. Ein Radiobeitrag des WDR gibt einen kurzen Überblick über Johanna Senfter und über ihre Musik.

Über Senfters Musik berichtete der Komponist Hans Fleischer 1960, der früher ein Schüler von ihr war:

Das Bemerkenswerteste an der Senfterschen Musik ist ihre Ursprünglichkeit und Eigenständigkeit. In ihren Frühwerken fußt sie harmonisch wohl auf Reger, aber nicht anders als etwa Reger auf Brahms, Brahms auf Beethoven, Beethoven auf Haydn fußt. Die außerordentliche melodische Erfindungskraft, der Aufbau, die Gestaltung ihrer Werke sind durchaus eigen, die Verdichtung des thematischen Materials im Durchführungsteil ihrer Sonaten und Symphonien ist von einer Konzentriertheit, die höchste Bewunderung erheischt. Die kontrapunktische Meisterschaft ist bei ihr niemals Selbstzweck, sondern steht stets im Dienst des geistig-seelischen Gehalts.

Dieser Text wurde verfasst für das Konzert „Drei Jahrhunderte Musik von Komponistinnen“ des Frankfurter Tonkünstlerbunds (23. Oktober 2021, Saalbau Frankfurt-Bornheim).