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Index: Komponist*innen und Werke

Lili Boulanger und ihre Chants sans paroles

Lili Boulanger: Trois Morceaux für Klavier

18.10.2021 — von Debora Sanny Tio

Als Tochter einer traditionsreichen, privilegierten Musikerfamilie wuchs Marie-Juliette Olga „Lili“ Boulanger (1893–1918) im 9. Arrondissement von Paris auf, umgeben von den bedeutendsten Musikern des Frankreichs ihrer Zeit. Ihr Vater, Ernest Boulanger, war ein angesehener Komponist und Lehrer, der am Conservatoire de Paris Gesang unterrichtete; ihre Mutter, Raissa Myschezkaja, war eine russische Sängerin aristokratischer Herkunft und veranstaltete wöchentliche Salons, zu denen prominente Musiker wie Gounod, Ravel und Fauré zum Soupieren eingeladen wurden und sich zu Liedern am Klavier einfanden.

Aufgrund der großen Rolle, die die Musik von Anfang an in ihrem Leben spielte, überraschte es kaum, dass sie sich schon früh zu einem Musikgenie entwickelte. Sie sang und spielte Geige, Klavier, Harfe, und Orgel. Bereits im Alter von sechs Jahren sang sie ein Lied von Fauré, welches der Komponist höchstpersönlich am Klavier begleitete; ihr öffentliches Debüt mit der Geige fand bereits 1901 statt, als sie gerade acht Jahre alt war.

Eigentlich sollte Lili Boulanger als eine von vier Schwestern aufwachsen, doch tragischerweise erreichten nur zwei der Schwestern das Erwachsenenalter: Nadia und Lili selbst. Ihre älteste Schwester, Ernestine Mina Juliette, starb 1886, als sie erst 19 Monate alt war, so dass Lili sie nie kennenlernte. Als Lili dann fünf Jahre alt war, starb auch ihre jüngere Schwester Lea Marie Louise, die gerade einmal vier Monate alt wurde. Nicht allzu lange danach, drei Monate bevor sie sieben Jahre alt wurde, starb schließlich ihr Vater, Ernest.

In einem Gespräch mit dem französischen Filmemacher Bruno Monsaiengon beschrieb Nadia, ihre Schwester, die Wirkung des Erlebnisses auf Lili wie folgt:

I believe that her whole talent was rooted in her first knowledge of grief. When our father died, she was six years old. And at six she understood what death was; that it is the grief of surviving someone you love. She never forgot that up to her own death; She never forgot any detail of our father’s life, of his habits, where he used to put things; the trivial as well as the important things.

Das Thema der Mortalität, insbesondere ihrer eigenen, beschäftigte Lili ihr ganzes Leben lang. Nachdem sie im Alter von zwei Jahren eine Lungenentzündung überlebt hatte, von der sie sich nie mehr richtig erholen sollte, erkrankte sie an einer schweren, chronischen Autoimmunkrankheit – heute als Morbus Crohn bekannt – die zu ihrer Zeit praktisch unheilbar war.

Diese unmittelbare Konfontration mit ihrer eigenen Sterblichkeit dämpfte weder ihren Ehrgeiz noch ihre Zielstrebigkeit. Trotz ihrer Krankheit, die zweifellos eine ernsthafte Herausforderung für ihre Bemühungen darstellte, war sie entschlossen, den Grand Prix de Rome – den prestigeträchtigen Preis, den ihr Vater bereits gewonnen hatte und der sich den zahlreichen Bemühungen ihrer Schwester entzogen hatte – zurück nach Hause zu bringen und sich als Komponistin zu etablieren. Sie begann, Unterricht bei Georges Caussade (1873-1936) zu nehmen, einem renommierten Musiker und Lehrer, der auch Kontrapunkt am Conservatoire de Paris unterrichtete. Gemeinsam mit Fauré war Caussade wohl ihr wichtigster Mentor. Der Unterricht fand zum Teil in Form eines Briefwechsels statt, wenn sie auf Reisen war, oft um sich zu verschiedenen Kurbädern des Landes zu begeben. Wann immer es ihre Gesundheit zuließ, arbeitete sie ohne Unterlass und füllte ein Skizzenbuch nach dem anderen mit Kompositionsübungen, während sie sich strategisch mit den Texten der vergangenen Jahre auseinandersetzte, um sich auf den Wettbewerb vorzubereiten. Ihre Bemühungen wurden schließlich mit Erfolg gekrönt. Mit ihrer Kantate Faust et Helene wurde sie 1913 zur Siegerin des Prix de Rome ernannt, und über Nacht zu einer Berühmtheit.

Lili Boulanger

Lili Boulanger (1913, gemeinfrei)

Der Anblick von Lili, die auf dem Podium der Endrunde dirigierte, wurde von der Presse mit folgenden Worten beschrieben:

standing near the piano, a slim shadow in a white dress, so simple, calm, serious and smiling, such an unforgettable image … the superiority of the eternal feminine.

Da sie sich des Zustands der Männer-dominierten Kompositionswelt bewusst war, nutzte Lili bewusst dieses konstruierte Bild von ihr als femme fragile und zögerte nicht, Gefälligkeiten in Anspruch zu nehmen, wenn sie diese nötig hatte.

I don’t often get on your nerves, admit it – so let me do it for once and ask you to do your utmost to oblige your old Lili. I will present at the exam one chorus and one vocal quartet – intervene with those members of the jury whom you particularly honour with your friendship in order to persuade them to have these two pieces performed, and ask them to award the Prix Lepaul to me if they find my work as good as people say, and to have my compositions played in the orchestra class.

Brief an Fernand Bourgeat aus dem Jahr 1912 (?), aus dem Französischen ins Englische übersetzt von Annegret Fauser.

Wie damals für Wettbewerbsgewinner üblich, sollte Lili als Artist-in-residence einen Komponieraufenthalt in der Villa Medici in Rom verbringen. Somit ebnete sie auch den Weg für künftige Künstlerinnen, sich ebenfalls in der Institution niederzulassen, da die Villa zuvor nur männliche Künstler aufgenommen hatte.

Villa Medici

Villa Medici (gemeinfrei)

Die 3 Morceaux pour piano, die 1914 neben ihrem Liederzyklus Clairières dans le Ciel entstanden, gehörten zu den Kompositionen, die Lili während ihres Aufenthalts in Rom vollendete. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs brachte ihre Residenz allerdings zu einem jähen Abbruch. Während des Krieges widmete sie ihre versiegenden Kräfte der Gründung eines Unterstützungsnetzwerks für Musiker im aktiven Dienst, einer Organisation, die später als Comité Franco-Americain bekannt wurde.

Titelblatt "D'un viuex jardin"

Titelblatt von D'un vieux jardin, veröffentlicht von Ricordi im Jahr 1919. Das Emblem auf dem Cover ist das von Lili Boulanger gewählte Logo: ihre Initialen L und B, die so kombiniert sind, dass sie wie ihre "Glückszahl" 13 aussehen.

Das melancholische Eröffnungsstück der 3 Morceaux, D’un vieux jardin, wurde Lily Jumel, einer Freundin der Familie, gewidmet. Das wohl texturell interessanteste Stück der Reihe führt uns mit seiner sinnlichen Melodie durch einen üppigen, überwucherten Weg voller harmonischer Drehungen und Wendungen. Durch das natürliche Auf und Ab der melodischen Äußerungen und ihre Interaktion mit den zuweilen flüchtigen Gegenmelodien entsteht ein organischer Strukturaufbau. Das Stück erreicht gegen Ende seinen Höhepunkt, bevor die absteigenden Bassschritte uns langsam in die Stille zurückführen.

Lili Boulanger, Trois Morceaux, 1. „D’un vieus jardin“, gespielt von dem bulgarischen Pianisten und Komponisten Emile Naoumoff, dem letzten Schüler von Nadia Boulanger

D’un jardin clair, das zweite Stück der Reihe, schwelgt in einem Lichtspiel, welches wiederum durch das Wechselspiel von Terzen und Quarten und seiner weiträumige Textur hervorgerufen wird. Lili huldigt hier öffentlich Debussy, indem sie dessen charakteristische Mittel einsetzt: sich parallel bewegende Akkorde auf einem schwebenden Bassgrund. Das Menuett-artige Stück widmete sie Nanette Salles, der Tochter von Gustav Eiffel, zu deren Geburtstagsfeier sie kurz nach dem Gewinn des Grand Prix eingeladen worden war.

Lili Boulanger, Trois Morceaux, 2. „D’un jardin clair“ (Emile Naoumoff)

Das letzte Stück der Reihe, Cortège, versetzt den Zuhörer mit seinem fröhlichen Ambiente voller witziger Dynamikwechsel in eine gutgelaunte Stimmung. Ein Blick auf die Partitur offenbart jedoch akribisch abgegrenzte agogische Details, die für maximale dramatische Wirkung sorgen. Yvonne Astruc, der das Stück gewidmet wurde, war Geigerin – und tatsächlich existierte das Stück zunächst in der Fassung für Violine und Klavier. Im Nachhinein war es nicht schwer zu erkennen, dass das melodische Hauptthema in einer für die Geige idiomatischen Weise geschrieben wurde. Die Soloklavierfassung ist zwar etwas weniger lebhaft als die Duofassung, glänzt aber durch ihre natürliche Anmut und Luzidität.

Lili Boulanger, Trois Morceaux, 3. „Cortège“ in der Fassung für Violine und Klavier (Olivier Charlier und Emile Naoumoff)

Eine andere Seite ihrer Persönlichkeit müssen wir in der unvermeidlichen physischen und emotionalen Abhängigkeit von ihrer Familie sehen – längere Phasen der Krankheit zwangen Lili oft dazu, sich gegen ihren Willen von den nichtfamiliären Kreisen zu isolieren. Und wenn es um berufliche Entscheidungen ging, verließ sich Lili oft auf Nadia, die sie für viel erfahrener hielt. Diese enge Beziehung, die sie mit ihren Liebsten teilte, prägte ihre Persönlichkeit genauso wie ihr Streben nach geistiger und künstlerischer Freiheit. Der Spitzname „Bébé“, den sie sich selbst in ihren familiären Korrespondenzen gab, zeigt, dass sie sich in ihrer Rolle als „Kind“ der Familie wohl fühlte. Sie war die „Friedensstifterin“ zuhause und während ihre Schwester Nadia viel strenger war und schon früh die finanzielle und familiäre Verantwortung übernehmen musste, war Lili dafür bekannt, liebevoll, warmherzig und verspielt zu sein. Ihre charmante und gesellige Art machte sie auch bei Freunden und Bekannten sehr beliebt.

Nadia und Lili Boulanger

Nadia und Lili Boulanger (1913, gemeinfrei)

Lili Boulangers Persönlichkeit als Komponistin wurde oft zu Unrecht auf ihre Krankheit und ihren frühen Tod sowie auf ihr Geschlecht reduziert. Dies sind zwar Tatsachen, die im Leben der Komponistin eine zentrale Rolle spielten, doch zeigte sie eine ungeheure Charakterstärke, die noch anziehender wirkte als alle ihre Leiden. Im Zentrum ihrer Kompositionen stehen nicht nur Fleiß, Erfindungsreichtum und musikalische Kunstfertigkeit, die sich durch den kühnen, forschenden Umgang der Komponistin mit der Harmonik und die geschickte Vertonung von Texten auszeichnen, sondern auch eine zutiefst persönliche und humane Ausdrucksweise – in diesem Fall auch im wahrsten Sinne des Wortes, denn Lili hatte eine besondere Affinität zur menschlichen Stimme.

Pie Jesu (1918), die letzte Komposition von Lili Boulanger. Aufgeführt 1968 von Bernadette Greevy und dem BBC Symphony Orchestra unter der Leitung von Nadia Boulanger.

Die 3 Morceaux pour piano strahlen eine lyrische Frische und Intimität aus, im Gegensatz zu der kompromisslosen Kraft und dem ernsteren Ton ihrer groß angelegten Vokalwerke. Ihre Psalmenvertonungen, der alte buddhistische Gesang, Vieille priere buddhique, sowie ihr Pie Jesu, die die Themen Trauer und Verlust behandeln, sind am repräsentativsten für dieses Genre. Stattdessen bieten uns die Miniaturen der 3 Morceaux einen unbeschwerten, „wortlosen“ Zugang zur inneren Welt der Komponistin, einer Komponistin, die fern von allen Legenden und persönlichem Glamour, ein äußerst sensibler, außergewöhnlicher Mensch war.

Quellen:
Potter, Caroline, Nadia and Lili Boulanger, England 2006
Fauser, Annegret, „Lili Boulanger's La princesse Maleine: A Composer and her Heroine as Literary Icons“, in: Journal of the Royal Music Association 122/1 (1997), S. 68–108
Dopp, Bonnie Jo, „Numerology and Cryptography in the Music of Lili Boulanger: The Hidden Program in Clairieres dans le ciel“, in: The Musical Quarterly 78/3 (1994), S. 557–583

Dieser Text wurde verfasst für das Konzert „Drei Jahrhunderte Musik von Komponistinnen“ des Frankfurter Tonkünstlerbunds (23. Oktober 2021, Saalbau Frankfurt-Bornheim).