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Ein Zahlenirrtum

Ludwig van Beethoven: Bagatellen für Klavier op. 33

17.10.2021 — von Anne Ilic

Das erste Mal hörte ich die Bagatellen im Radio. Ich war mit meinen Großeltern unterwegs und wartete mit meinem Opa im Auto auf meine Oma. Mein Opa hatte im Radio hr2 angestellt – leider etwas zu laut, weil er kein Hörgerät hatte – und da liefen gerade die Bagatellen von Beethoven. Mir gefielen sie sehr. Die ganze Zeit versuchte ich mir „Opus 33" einzuprägen, damit ich sie auf jeden Fall nochmal hören konnte. Bis heute verbinde ich diese Zahl mit Beethovens Bagatellen.

Ludwig van Beethoven, Bagatellen op. 33 (Artur Schnabel)

Heute begeistern mich an den kleinen Stücken besonders die Gegensätze – ein Punkt den ich allgemein an Beethoven liebe. Ich muss dabei immer an meine frühere Oboenlehrerin denken, die einmal sagte: Beethovenaufnahmen sind dann richtig gut, wenn man dauernd zur Stereoanlage rennen muss – entweder spielt das Orchester so leise, dass man hochdrehen muss, und kaum hat man das getan, rennt man wieder hin, weil eine forte-Stelle kommt und einem die Ohren wegfliegen. Solche Extreme sind auf einem Klavier zwar nicht machbar, aber auch hier machen sich Beethovens Gegensätze bemerkbar.

Im Jahr 1803 erschienen die Sieben Bagatellen Opus 33 von Ludwig van Beethoven im Kunst- und Industrie-Comptoir Wien.

Titelseite des Erstdrucks

Titelseite des Erstdrucks, Beethoven-Haus Bonn

Doch wann sie komponiert wurden, bereitete zunächst Kopfzerbrechen. Denn im Autograph ist von Beethoven das Jahr 1782 angegeben. Da wäre er gerade mal elf Jahre alt gewesen. Allerdings hatte es Beethoven anscheinend nicht so mit Zahlen. Auch bei anderen angegebenen Daten versinken Forscher im Nachdenken.

Autograph

Seite 1 im Autograph, Beethoven-Haus Bonn

Anfangs wurde vermutet, dass Beethoven in diesen sieben Stücken Ideen aus Kindertagen verwendete und daher 1782 als Entstehungsjahr angab. Diese These wurde aber von der neueren Forschung wieder verworfen. Notizen zu den Bagatellen lassen sich nämlich in insgesamt vier Skizzenbüchern finden, die er zwischen Sommer 1800 und Mai 1803 verwendete. Inzwischen glaubt man, dass er statt „1782“ „1802“ meinte.

Ein ähnlicher Fehler unterlief Beethoven auch bei einem Brief an die Gräfin Susanna Guicciardi (1784-1856). Ihre Tochter Giulietta war 1801/02 eine Klavierschülerin Beethovens, der er die Sonata quasi una Fantasia cis-Moll op. 27 Nr. 2 widmete, der nach seinem Tod der heute bekannte Titel „Mondschein-Sonate“ gegeben wurde. In diesem Brief gab er ebenfalls das Jahr 1782 an, das jedoch gar nicht sein kann, da er sie erst 1801 kennenlernte. Tatsächlich schrieb er den Brief nämlich erst am 23. Januar 1802.

Giulietta Guicciardi

Giulietta Guicciardi (1782-1856), Heliogravüre einer anonymen Zeichnung oder Lithographie des 19. Jahrhunderts (Beethoven-Haus Bonn, gemeinfrei)

Zu der Zeit der Entstehung der Bagatellen arbeitete er unter anderem auch an seiner zweiten Sinfonie. Doch auch seine Ertaubung machte sich mehr und mehr bemerkbar. 1802 verfasste er das sogenannte Heiligenstädter Testament. Dabei handelt es sich um einen Brief an seine beiden Brüder Kasper Karl und Nikolaus Johann, denen er seine Verzweiflung über das Fortschreiten seines Hörleidens klagte.

Doch was ist eine Bagatelle überhaupt, was macht sie aus? Aus der Literatur stammend bedeutet Bagatelle zunächst einmal „eine Kleinigkeit, etwas von geringem Wert“. Als musikalische Bezeichnung stand der Begriff erstmals 1679 für eine einfache und leichte Vokalkomposition. Das erste Mal für einen musikalischen Instrumentalsatz wurde er im Jahr 1692 in den Pièces en trio von M. Marais verwendet.

Marin Marais, La bagatelle (Musica Pacifica)

Anschließend erhielt ein Tanz aus M. de La Barre's Pièces pour la flûte traversière avec la basse continue op.4 aus dem Jahr 1702 den Titel „Gavotte la Bagatelle“.

Michel de la Barre, Gavotte. La bagatelle (Stephen Preston, Jordi Savall, Hopkinson Smith)

Sowohl Nicolas Racot de Grandval als auch Francois Couperin gaben schließlich einem eigenen Stück den Titel Bagatelle.

François Couperin, Les bagatélles (Ray McIntyre)

Seitdem tauchen Bagatellen, kurze Stücke ohne besonders ernstem Charakter, immer wieder in der Musik auf.

Ludwig van Beethoven brachte die Gattung zu ihrem Höhepunkt. Insgesamt schrieb er drei Bagatellensammlungen: Opus 33, Opus 119, dessen Bagatellen er selbst als „Kleinigkeiten" bezeichnete, und Opus 126. Zudem gab er sechs Werken ohne Opusnummer den Titel Bagatelle. Auch Für Elise, das keine Opusnummer trägt, ist eine Bagatelle.

Ludwig van Beethoven, „Für Elise“ (Lang Lang)

Trotz der Bezeichnung als „Bagatellen“ besteht Opus 33 aus sehr spannenden, kurzen musikalischen Eindrücken. Komponiert im frühen Stil, in dem noch besonders der Einfluss Joseph Haydns deutlich ist, finden sich in ihnen viele Merkmale aus der Klassik. Besonders charakteristisch für die Sieben Bagatellen op. 33 sind die einprägsamen Melodien, die oft wiederholt werden.

I. Andante grazioso, quasi allegretto

Diese Bagatelle in Es-Dur ist in der dreiteiligen Liedform (A-B-A) komponiert. Die meisten werden sie schon einmal gehört haben, sie ist wahrscheinlich die bekannteste der sieben Bagatellen. Nach dem Anfangsteil (A) in Es-Dur beginnt der Mittelteil (B) in es-Moll. Am Ende dieses Mittelteils landet man wieder über eine B-Dur-Tonleiter, die Beethoven in eine Es-Dur-Tonleiter moduliert, in der Grundtonart.

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Ludwig van Beethoven, Bagatelle Es-Dur op. 33, Nr. 1

Der insgesamt fließende Charakter kommt durch den 6/8-Takt zustande. In diesem Stück fallen besonders die vielen Vorhalte auf.

II. Scherzo. Allegro

Die zweite Bagatelle steht in C-Dur. Lustig und sehr gewitzt erweckt sie zu Beginn den Eindruck, dass der Pianist ein wenig angetrunken und heiter ist. Doch wirft man einen Blick auf die Noten, sehen die recht unspektakulär aus. Ein alltäglicher 3/4-Takt mit ganz normalen Notenwerten: Achtel, Sechszehntel, Viertel – nichts Ungewöhnliches. Andere Notenwerte kommen Allegroteil nicht vor. Doch die Besonderheit ist die Dynamik: Erster Schlag piano, zweiter Schlag sforzando (und staccato), dritter Schlag – der „Stolperer" – forte, der Rest wieder piano. Bis zum nächsten Stolperer.

Bagatelle Nr. 2

Ludwig van Beethoven, Bagatelle C-Dur op. 33, Nr. 2

An das Allegro schließt sich ein Minore-Teil an, der dem Ohr durch seine fließende Dynamik und vielen Triolen-Arpeggien ein wenig Erholung gewährt. Auch der Trio-Teil gestattet dem Zuhörer ein wenig Ruhe und Gleichmäßigkeit durch die durchgängigen Tonleitern. Geschickt verknüpft Beethoven so in dieser Bagatelle Irritation und Erholung des Zuhörers – und vielleicht auch des Pianisten. Sie wird als zweitschwerstes Stück des Opus 33 angesehen.

III. Allegretto

Die dritte Bagatelle komponierte Beethoven in F-Dur. In diesem zart fließenden Stück ist die linke Hand meist mit Arpeggien beschäftigt. Durch die vielen Vorschlagsnoten in der rechten Hand wirkt es leicht und unbeschwert.

IV. Andante

Diese ruhige Bagatelle steht in A-Dur, der Mittelteil ist in a-Moll. Hier kann sich der Zuhörer zurücklehnen, der Musik nachhängen und seinen Gedanken freien Lauf lassen.

V. Allegro ma non troppo

Wahrscheinlich ist sie die schwierigste Bagatelle, aber für mich gehört sie zu den Spannendsten. Sie beginnt mit vier aufsteigenden Sechzehnteltriolen-Arpeggien. Und dann – man möchte weiterhören – setzt Beethoven einfach vier Staccato-Achtel! Das ist, als ob ein Sprinter über das Ziel hinausrennt, ohne es bemerkt zu haben und erst ein paar Meter zu spät anhält. Das Ohr will weiter hören – aber die Töne fehlen. Immer wieder wird so der Hörfluss irritiert. Für mich ist das wie ein kleiner Stolperer, der im Gegensatz zu der darauf folgenden Leichtigkeit steht.

Bagatelle Nr. 5

Ludwig van Beethoven, Bagatelle C-Dur op. 33, Nr. 5

Besonders am Ende muss ich immer wieder schmunzeln. Hier spielt Beethoven intensiv mit der Hörerwartung und reizt diese aus. Er spannt den Hörer auf die Folter, wie es nur weitergeht und – endlich, man kann kaum noch stillsitzen! – es geht wieder weiter – aber nicht ganz so, wie man vermutet hat: Die Sechzehnteltriolen, die sonst nur über vier Schläge gingen, laufen jetzt durchgängig bis zum Ende und die vier Achtel, die mit den beiden Trillern auf der jeweils leichten Zählezeit ausgleichend zu den Sechzehnteltriolen gewirkt und die Phrase beendet hatten, fallen weg.

Bagatelle Nr. 5

Ludwig van Beethoven, Bagatelle C-Dur op. 33, Nr. 5

Diese Bagatelle ist in C-Dur, der Mittelteil in c-Moll.

VI. Allegretto, quasi andante

Diese lyrische Bagatelle steht in D-Dur. Durch die Anweisung „Con una certa espressione parlante“ (in etwa: „Mit einem gewissen sprechenden Ausdruck“) werden die Phrasen besonders deutlich: Am Ende einer Phrase macht der Pianist eine kurze Pause – wie an einem Satzende. Diese Deutlichkeit wird durch das langsame Tempo und die ruhige Stimmung nochmal verstärkt. Für mich ist sie die Tiefsinnigste aus der Sammlung. Durch ihren ruhigen Charakter und den kurzen Phrasen erscheinen mir diese wie Gedanken, auf die eine kurze nachdenkliche Pause folgt.

VII. Presto

Die letzte Bagatelle steht in As-Dur. Charakteristisch für sie sind die Staccati in der linken Hand. Insgesamt drängt dieses kurze Stück energetisch nach vorne. So schnell, wie es anfing, so schnell endet es auch.

Dieser Text wurde verfasst für das Konzert „250 Jahre plus 1: Beethoven pur“ des Frankfurter Tonkünstlerbunds (24. Oktober 2021, Saalbau Frankfurt-Bornheim).