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Er soll kommen!

Gustav Mahler: Adagietto aus der 5. Sinfonie

28.12.2020 — von Anne Ilic

„Lied ohne Worte“ – so bezeichnete Theodor W. Adorno das 1901 komponierte Adagietto aus Gustav Mahlers 5. Sinfonie. Nachdem Mahler in seiner 2., 3. und 4. Sinfonie immer ein Lied integriert hatte, fehlt in dieser Sinfonie nun ein Gesangspart. Und doch scheint unter der Oberfläche ein Lied verborgen zu sein, denn in dem nur für Streicher und Harfe komponierten vierten Satz gibt es zahlreiche Ähnlichkeiten zu Mahlers Lied „Ich bin der Welt abhanden gekommen“.

Gustav Mahler: Ich bin der Welt abhanden gekommen (Magdalena Kožena / Lucerne Festival Orchestra / Claudio Abbado)

Das Lied entstand nur wenige Monate vor dem Adagietto und basiert auf dem gleichnamigen Gedicht von Friedrich Rückert. Es erzählt von Innerlichkeit und erfüllender Zurückgezogenheit, selbstgewolltem und positivem Alleinsein:

Ich bin der Welt abhanden gekommen,
mit der ich sonst viele Zeit verdorben,
sie hat so lange nichts von mir vernommen,
sie mag wohl glauben, ich sei gestorben!

Es ist mir auch gar nichts daran gelegen,
ob sie mich für gestorben hält.
Ich kann auch gar nichts sagen dagegen,
denn wirklich bin ich gestorben der Welt.

Ich bin gestorben dem Weltgetümmel
und ruh' in einem stillen Gebiet.
Ich leb' allein in meinem Himmel,
in meinem Lieben, in meinem Lied.

Wollte Mahler durch die Gemeinsamkeiten im motivischen Material, Metrum, Tempo, Dreiteilung des Satzes und den begleitenden Harfentriolen auf das Lied und somit auch auf glückliche Abgeschiedenheit verweisen? Mahler selbst schreibt zu seiner 5. Sinfonie: „Diese Musik entstand ohne äußeren Anlass. Sie ist in mir.“

Gustav Mahler 1892

Gustav Mahler 1892 (Foto von Leonhard Berlin-Bieber, gemeinfrei, Quelle)

Bekannt geworden ist das Adagietto durch die Verfilmung des Buches „Tod in Venedig“ (Thomas Mann) von Luchino Visconti (1971), in dem es als Symbol für für psychische Isolation verwendet wurde.

Trailer zum Film „Death in Venice“ (1971)

Auch wenn durch den Film nun viele vielleicht das Adagietto mit Einsamkeit verbinden, schrieb Mahler diesen intimen Satz nach einer Überlieferung des Dirigenten Willem Mengelbrecht (1871-1951) als Liebeserklärung an Alma Schindler, seine spätere Frau.

Alma Schindler 1899

Alma Schindler 1899 (gemeinfrei, Bildquelle)

Er hatte sie 1901 kurz zuvor kennengelernt und ihr das Manuskript an Stelle eines Briefes geschickt. Vielleicht ist ja die kontinuierliche Linie in den Violinen und die (recht) homogene Klangfarbe ein Ausdruck für Mahlers nicht enden wollende Glückseligkeit, wenn er an Alma dachte.

Gustav Mahler: Adagietto aus der 5. Sinfonie (Lucerne Festival Orchestra / Claudio Abbado)

Wollte Gustav Mahler nun die erfüllende Zurückgezogenheit gegen glückliche Zweisamkeit tauschen und seinen Himmel, sein Lied mit ihr teilen? Alma wollte es: Laut Mengelbrecht soll sie nach dem Erhalt des Manuskripts mit „Er soll kommen!!!“ geantwortet haben.

Der Text entstand in Kooperation mit der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt am Main zu einem Konzert des Hochschulorchesters am 29. November 2020 im hr-Sendesaal.

Eine Aufnahme des Konzerts sendet hr2-kultur am Freitag, dem 24. September 2021 ab 20.04 Uhr.