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Index: Komponist*innen und Werke

Zwischen Heiterkeit und Weltschmerz

Johannes Brahms: 2. Sinfonie D-Dur op. 73

05.11.2020 — von Clara Remeli

2020 – ein Jahr, in dem die (Musik-) Welt anlässlich seines 250. Geburtstags auf Ludwig van Beethoven schaut. Sich bewusst seiner Person und Werk erinnert und sich fragt, was seine Musik so außergewöhnlich, so populär, scheinbar vollkommen und zeitlos macht. Doch mit derartigen Überlegungen befassen wir uns 2020 nicht als erste; nein, bereits Johannes Brahms haben diese Fragen umgetrieben, auf der Suche nach seiner eigenen Musiksprache.

In der Auseinandersetzung mit dem Erbe Beethovens war Brahms freilich in guter Gesellschaft, vor ihm stellten sich schon Komponisten wie Schubert oder Mendelssohn dieser Aufgabe. Doch Brahms wählt einen anderen Weg als seine Vorgänger. Er setzt sich direkt mit Werken Beethovens auseinander und knüpft an sie an. Dabei bezieht er sich nicht auf vermeintliche Nebenwerke des Komponisten, sondern auf seine Hauptwerke der Sinfonik – in der ersten wie auch in der zweiten seiner Sinfonien.

Johannes Brahms: 2. Sinfonie D-Dur op. 73 (hr-Sinfoieorchester/Andrés Orozco-Estrada)

Brahms komponierte die zweite Sinfonie nur kurze Zeit nach seiner ersten. Anders als bei seiner ersten Sinfonie, für deren Komposition er sich jahrelang Zeit ließ, schrieb er die zweite binnen vier Monaten, von Juni bis Oktober 1877. Diesen Sommeraufenthalt verbrachte er in Pörtschach am Wörthersee – daher auch die Bezeichnung als „Wörthersee-Sinfonie“.

Die schnelle Aufeinanderfolge der beiden ersten Sinfonien ist auch der Grund, weshalb diese häufig als zusammenhängendes Paar betrachtet werden.

Kernmotiv

Brahms um 1875, kurz vor der Entstehung der zweiten Sinfonie (gemeinfei)

Die zweite gilt als heiterste unter den Sinfonien – doch beim genaueren Hinsehen stellt sich schnell heraus, dass die Musik deutlich vielschichtiger ist. Diese Mehrschichtigkeit deutet Brahms bereits in seiner eigenen Interpretation an: Im Sommer 1877 schreibt er an seinen Freund Eduard Hanslick:

„Ich bin Dir von Herzen verbunden und zum Dank soll’s auch, wenn ich Dir etwa den Winter eine Symphonie vorspielen lasse, so heiter und lieblich klingen, daß du glaubst, ich habe sie extra für Dich oder gar Deine junge Frau geschrieben!“

Doch die Sinfonie erscheint keineswegs in nur heiterem und lieblichem Gewand, so äußerte doch Clara Schumann, der er sein Werk bereits vorgespielt hatte, im September gegenüber dem Dirigenten Hermann Levi in einem Brief:

„Brahms […] hat, im Kopfe wenigstens, eine neue Symphonie in D-dur fertig – den ersten Satz hat er aufgeschrieben – ganz elegischen Charakters.“

Auch Brahms selbst beschreibt – wenn auch mit ironischem Tonfall – später sein Werk als wehmütig, beispielsweise in einem Brief an Fritz Simrock: „Die neue Symphonie ist so melancholisch, daß Sie es nicht aushalten“ und an seinen Freund Adolf Schubring schrieb er: „Du hast noch nichts Weltschmerzlicheres gehört […].“

Auch wenn die Interpretation nicht ganz einfach und offensichtlich ist, so scheint für viele die Heiterkeit zu überwiegen. Der Musikwissenschaftler Reinhold Brinkmann prägte dafür den Begriff des „Idylls“. Damit bezieht er sich auf die große Naturverbundenheit, die Brahms' Zweite auszeichnet; er fasst sie als Metapher für die Natur auf. Tatsächlich liebte Brahms die Natur: Es war bekannt, dass er in seiner Freizeit gerne spazieren ging. Sicherlich spielt auch der Entstehungsort der Komposition eine Rolle. Brahms war inspiriert vom Wörthersee, so lässt es auch bereits Theodor Billroth in einem Brief anklingen: "Das ist ja lauter blauer Himmel, Quellenrieseln, Sonnenschein und kühler grüner Schatten! Am Wörther See muß es doch schön sein."

Pörtschach am
Wörthersee Pörtschach am Wörthersee (Foto: Johann Jaritz, CC BY-SA 3.0)

Die Sinfonie besteht aus insgesamt vier Sätzen. Dabei bilden die äußeren Sätze einen Rahmen um die beien mittleren Sätze und korresponieren miteinander.

Der erste Satz, das Allegro, steht in D-Dur und ist beinah so lang wie die restlichen Sätze zusammen. Auch inhaltlich hat er Gewicht. Von den ersten Takten an spannt sich ein Bild der Idylle auf: Wenn im zweiten Takt die beiden ersten Hörner mit ihrer aufsteigenden Legato-Figur einsetzen, scheint ein neuer Tag anzubrechen. Der Klang ist verhalten, vielleicht liegt auf den Blättern und Gräsern noch Tau, und wenn die Querflöten einsetzen, scheint langsam die Sonne aufzugehen. Nach und nach stimmen die weiteren Instrumentengruppen ein, es baut sich allmählich ein Tutti auf, der Tag beginnt.

Sowohl das Haupt- als auch das Seitenthema sind recht einfach aufgebaut und lassen im Wesentlichen die typischen Formen eines Volksliedes erkennen, wie beispielsweise einen einfachen Rhythmus oder recht kleine Intervalle. Diese Annäherung ans Volkstümliche verstärkt natürlich die Interpretation der Naturverbundenheit.

Gustav Klimt: Idylle

Gustav Klimt, „Idylle" (gemeinfrei)

Das Adagio non troppo, der zweite Satz, steht in H-Dur. Doch die wiederkehrende Chromatik, mit der der Satz direkt beginnt, trübt die Dur-Tonart. Wieder erklingen Hörner und Querflöten gemeinsam, hier aber reiben sie sich auf engem

Raum und die Weite und der optimistische Klang sind gewichen. Die Stimmung ist also keinesfalls durchweg heiter und idyllisch, sondern in diesem Satz von Wehmut gezeichnet. Der Musikwissenschaftler Christian Martin Schmidt sieht in diesem Satz den emotionalen Tiefpunkt der Sinfonie, von dem ausgehend sich die Sinfonie im weiteren Verlauf wieder ins Positive wendet.

Die Zuversicht erwacht bereits wieder im dritten Satz, im tänzerischen Satz der Sinfonie. Er lässt keine Spur von Melancholie oder Weltschmerz erkennen, sondern ist durchzogen von einem heiteren Charakter. In diesem Teil zeigt sich durch geschickte Ausgestaltungen: Brahms konnte auch Tänze komponieren.

Während im dritten Satz bereits eine, um Schmidt zu zitieren, „idyllische Heiterkeit“ aufgebaut wurde, wächst diese im vierten Satz nun an zu einer „kollektiven Euphorie“ und macht so seiner Bezeichnung als Allegro con spirito alle Ehre.

Brahms' zweite Sinfonie ist vordergründig heitere Musik. Der Hintergrund sind Melancholie und Weltschmerz. Von diesem Tiefpunkt aus baut sich die Stimmung jedoch zunehmend wieder auf und endet schließlich wieder im Idyll, wo sie begann. Dennoch ist die Sinfonie durchzogen von ebendiesen Spannungen zwischen Heiterkeit und Weltschmerz. Dieser Konflikt deutet sich also nicht nur bereits im Verhälnis von Fremd- und Eigenwahrnehmung Brahms' von seiner Sinfonie an, sondern ist auch klar in der Musik erkennbar. Für mich persönlich allerdings wird die Sinfonie gerade durch diese Spannungen und ihre Vielschichtigkeit interessant und hörenswert.

Doch um noch einmal auf den Anfang zurückzugreifen: Wo kommt nun Beethoven ins Spiel? Wie war Brahms von ihm in seiner zweiten Sinfonie beeinflusst?

Genauso wie in der ersten bezieht sich Brahms auch in seiner zweiten Sinfonie direkt auf Beethoven, in diesem Fall auf die dritte Sinfonie. So ist das Thema des ersten Satzes der zweiten Sinfonie angelehnt an das Hauptthema der Eroica und erscheint in einem ähnlichen Stil. Er greift auch Stilmittel Beethovens auf: Als dieser in seiner Eroica drei Hörner vorsah, galt das als neuartig für die Zeit. Brahms steigert das in seiner Zweiten und plant vier Hörner ein. Auch darin könnte sich seine Sinfonie als Antwort auf Beethoven und seine Dritte manifestieren. Das vierte Horn als Antwort auf Beethovens Dritte?

Doch die zweite Sinfonie soll auch Brahms‘ letzte Sinfonie gewesen sein, in der er sich direkt auf eines von Beethovens Hauptwerken bezog und sich damit auseinandersetze, in der dritten und vierten Sinfonie wird er dann andere Wege gehen. Auch das trägt dazu bei, dass die ersten beiden Sinfonien heutzutage noch als Paar aufgefasst werden. Auch wenn Brahms nach seiner zweiten Sinfonie sicherlich nicht völlig losgelöst von seinem Vorbild Ludwig van Beethoven arbeitete, so gelang es ihm doch, sich etwas weiter von ihm zu distanzieren und zu emanzipieren – und vielleicht ist das ein Gedanke, den wir heute mitnehmen können: Trotz großer Idole wie Beethoven im Hinterkopf lohnt es sich, eigene Wege suchen und finden.

Literatur:
Breyer, Knud, Komponierte Geschichte. Johannes Brahms' spätes Klavierwerk und die Idee eines historisch-systematischen Gattungskompendiums, Berlin 2008 (Musik und Musikanschauung im 19. Jahrhundert, 16).
Brinkmann, Reinhold, Johannes Brahms. Die Zweite Symphonie, München 1990 (Musik-Konzepte, 70).
Floros, Constantin; Schmidt, Christian Martin und Schubert, Giselher, Johannes Brahms. Die Sinfonien, Mainz 1998.