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Forschungsreise durch eine Sinfonie

César Franck: Sinfonie d-Moll

19.10.2020 — von Henryk Edlund

Es gibt nur wenige Stücke, bei denen mein Hörerlebnis so sehr von der Aufnahme abhing wie bei César Francks Symphonie in d-Moll. Meine erste Begegnung mit dem Werk war eine überaus langsame Aufnahme, die mich beeindruckt zurückließ. Besonders im ersten Satz machte sich das langsame Tempo deutlich bemerkbar. Mit seinen Lento-Abschnitten bekam der Satz etwas Gewaltiges, Unaufhaltsames - und blieb doch in intimeren Momenten sehr gefühlvoll. Eine ergreifende Mischung, die ich in manchen schnelleren Aufnahmen vermisste. Doch nachdem ich mich irgendwann an ein höheres Tempo gewöhnt hatte, fühlte sich die Rückkehr zu den langsameren Aufnahmen merkwürdig an. Plötzlich fehlten mir der Schwung, die Lebendigkeit, manchmal sogar die Verspieltheit, die der erste Satz entwickeln kann. Eine Aufnahme für diesen Text auszusuchen war daher nicht leicht, denn gerade die düstere Spannung der langsamen Einleitung ist mir beim Hören sehr wichtig. Meine Wahl fiel schließlich auf eine Aufnahme des Chicago Symphony Orchestra unter Leitung von Pierre Monteux, der der Musik auch an langsameren Stellen genügend Zeit zum Atmen lässt.

César Franck: Symphonie d-Moll (Chicago Symphony Orchestra / Pierre Monteux)

César Franck vollendete die Symphonie in 1888, zwei Jahre vor seinem Tod. In dieser Zeit hatte Franck eine Stellung als Organist an der Pariser Kirche St. Clotilde inne und gab Orgel- und Kompositionsunterricht am Konservatorium. Für das Komponieren hatte er daher hauptsächlich in den Sommerpausen Zeit, und doch waren seine späten Jahre wahrscheinlich die produktivsten seines Lebens.

Seine Symphonie traf allerdings auf einige Kritik. Ein Professor des Pariser Konservatoriums bemerkte etwa, dass es ja wohl keine Symphonie sein könne, wenn ein Englischhorn darin vorkomme. Und nicht nur das Englischhorn sorgte für Irritation – auch die Wiederholung der langsamen Einleitung und des Hauptthemas zu Beginn des ersten Satzes wurde argwöhnisch aufgenommen.

Die Symphonie wurde zudem in eine aufgeladene politische Stimmung hineingeboren. Franck war Mitglied der Société Nationale de Musique, einer Vereinigung, die die Nation sowohl im Namen als auch im Programm führte. Ihr Ziel war es, ernste französische Musik zu komponieren und so der Dekadenz entgegenzuwirken, die damals nach Ansicht vieler französischer Intellektueller das kulturelle Leben von Paris beherrschte. Sie sahen den französischen Sittenverfall als Grund für die Niederlage im deutsch-französischen Krieg von 1871. Die Gründer der Société, wie zum Beispiel Camille Saint-Saëns, nahmen sich unter anderem die deutsche Musik als Vorbild, die sie als Teil der überlegenen und offensichtlich siegreichen Kultur sahen. Es gab allerdings außerhalb der Société auch Stimmen, die meinten, die Liebe zu Frankreich könne sich nur durch ebenso starke Abneigung gegen alles Deutsche äußern. Besonders der Einfluss Richard Wagners erschien als zerstörerisch und gefährlich. Nun war Franck nicht nur von Wagner beeinflusst, sondern auch von Liszt, Mendelssohn-Bartholdy und Beethoven. Das Kernmotiv der Symphonie nimmt sogar direkt Bezug auf Beethovens Streichquartett, op. 135. Der Streit um die französische Musik dürfte also nicht gerade dafür gesorgt haben, dass die Reaktionen auf die Symphonie abgemildert wurden.

Das Werk eroberte dennoch im Laufe der Zeit einen Platz im klassischen Repertoire. Besonders in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts stieg das Interesse an Francks Musik und die Symphonie blieb populär, als dieses Interesse in den 1960er-Jahren wieder nachließ. Das äußerte sich auch in einer beachtlichen Zahl an Aufnahmen.

Der erste Satz der Symphonie steckt voller Dramatik und besitzt dabei trotz aller Spannung auch seine zarten Momente, die sich hier aber noch nicht allzu lange halten können. Mehr Raum erhalten solche Momente erst im zweiten Satz, wo sie einen Scherzo-Mittelteil einrahmen. Die sanfte Stimmung verschwindet dabei immer nur kurz, bevor sie wieder zum Vorschein kommt. Der dritte Satz gibt sich zunächst fröhlich und beschwingt, doch später nimmt er Elemente aus den ersten beiden Sätzen wieder auf, gegen die sich das Material aus dem dritten Satz behaupten muss.

Tatsächlich sind solche wiederkehrenden Elemente ein wichtiges Merkmal von Francks Symphonie. Wie viele seiner späten Instrumentalwerke nutzt sie nämlich sogenannte zyklische Kompositionstechniken, die dazu dienen, einzelne Sätze eines Werks miteinander zu verknüpfen und so einen Gesamtzusammenhang zu schaffen. Typischerweise stellen die Themen und Motive eines Stücks solche Verknüpfungen her: Ein Thema des ersten Satzes kann zum Beispiel in einem späteren Satz wieder auftauchen, womöglich als Zitat oder in verwandelter Form, im Vordergrund oder ganz unauffällig versteckt. Verknüpfungen können aber auch in der Harmonik oder in den Satzübergängen selbst bestehen, sie sind also nicht nur auf den motivisch-thematischen Bereich beschränkt.

Zyklische Kompositionstechniken waren zu Francks Zeit nichts Neues. In der Wiener Klassik, um 1800, trug die Harmonik noch viel zur Dramaturgie eines Satzes bei. Doch als die Harmonik im 19. Jahrhundert immer komplexer wurde, wurde es auch schwieriger, mit ihr größere Strukturen eingängig zu gestalten. Zyklische Prinzipien dagegen konnten dem Hörer Orientierung bieten. Wagner, Liszt, Schubert und selbst Beethoven hatten sie schon in ihren Werken verwendet, teilweise in großem Maßstab. Am Beispiel von Franck will ich dieses wichtige Merkmal der Romantik veranschaulichen. Seine Symphonie enthält ein Kernmotiv, auf dem Themen in allen drei Sätzen basieren. Daher kann man anhand der Melodik leicht einigen der Verknüpfungen auf die Spur kommen.

Die Zeitangaben sind dabei für die ganz Interessierten. Genauso gut kann man sich die folgenden Details einfach zu Gemüte führen und dann schauen, ob man beim nächsten Hören ein paar davon entdeckt. Ich finde, es lohnt sich in jedem Fall, sich diesen versteckten Beziehungsreichtum bewusst zu machen.

Werfen wir einen Blick auf das Kernmotiv, das gleich zu Anfang steht:

Kernmotiv

Satz 1, T. 1: Kernmotiv

Diese drei Töne erklingen leise und im langsamen Tempo tief unten in den Celli. Charakteristisch sind dabei die Intervalle dieses Motivs, die Franck im Verlauf des Werks immer wieder aufgreift: eine Sekunde zwischen erstem und zweitem Ton, eine Quarte zwischen zweitem und drittem Ton, und eine Terz zwischen dem ersten und dritten Ton. Franck wählt dabei je nach Kontext und Tonart große, kleine oder verminderte Intervalle. Die Stimmung ist düster, beinahe bedrohlich. Oder eher tastend, fragend? Das Motiv nimmt dreimal Anlauf, bevor es sich weiterentwickelt:

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Satz 1, T. 1–12: Beginn der langsamen Einleitung (0:00)

Bei 1) ist das Motiv leicht zu erkennen, bloß der Rhythmus hat sich ein wenig verändert. Gruppe 2) variiert neben den Intervallen und dem Rhythmus auch die Reihenfolge der Töne, es spielen nun die Violinen. Der Charakter ist hier plötzlich viel milder, allein durch diese Mittel ist das Motiv wie verwandelt. Bevor die langsame Einleitung zu Ende geht, erscheint eine weitere Variation, diesmal im Bass (2:27). Das Allegro-Thema greift das Motiv kurz danach auf (2:49), geht aber anschließend eigene Wege.

Drittes Thema

Satz 1, T. 129–138: 3. Thema (7:27)

Lautstark betritt in Takt 129 das dritte Thema die Bühne. Das ganze Orchester bettet hier das Kernmotiv in F-Dur ein und bildet einen starken Gegensatz zum düsteren Satzbeginn. Es scheint daher sehr passend, dass auch die Tonhöhenverhältnisse auf den Kopf gestellt sind. Ein Ton erklingt zwar mehrfach, doch es handelt sich hier eindeutig um die Umkehrung des Kernmotivs. Im ersten Satz hat das dritte Thema zwar nur noch wenige Auftritte, doch besonders im dritten Satz spielt es noch eine wichtige Rolle. (Auch im zweiten Satz gibt es immer wieder Anklänge an dieses Thema: 19:57, 22:00 und 26:26.)

Englischhornthema

Satz 2, T. 16–26: Englischhornthema (18:39)

Ruhig, etwas melancholisch trägt das Englischhorn das erste Thema im zweiten Satz vor. Das Kernmotiv kann man hier sowohl in den Tönen 1–3 erkennen als auch in den Tönen 2–4 (hier wäre es die Krebsumkehrung). Doch im regelmäßigen Wiegen des 3/4-Taktes hat sich die ganze Spannung gelöst, die das Motiv noch im ersten Satz besaß. Franck stellt hier übrigens noch auf eine weitere Art einen Bezug zur langsamen Einleitung im ersten Satz her: Auch im Englischhornthema braucht das Motiv drei Anläufe, bis es ins Rollen kommt.

3. Satz, 1. Thema

Satz 3, T. 7–10, T. 19–22: Vordersatz 1. Thema (28:46)

Im dritten Satz wandelt sich die Stimmung wieder. Nach dem wuchtigen Satzbeginn in D-Dur nehmen Fagotte und Celli geradezu beschwingt das erste Thema auf. Der Unterschied zum Beginn der Symphonie könnte kaum größer sein, aber der motivische Kern bleibt derselbe. Besonders deutlich ist die Ähnlichkeit zwischen Takt 7 im dritten Satz und Takt 9 in der langsamen Einleitung – siehe oben.

3. Satz, 2. Thema

Satz 3, T. 72–79: 2. Thema (29:56)

Das zweite Thema verlegt Variante 1) des Kernmotivs zunächst in die Tuba, bevor die hohen Streicher Variante 2) übernehmen. Hier kann man sehen, wie sich das Kernmaterial auch mal in der Begleitung versteckt (Takt 72–75).

Von den fünf Themen, die wir bisher betrachtet haben, sind zwei düster bzw. melancholisch (die langsame Einleitung und das Englischhornthema), die anderen drei sind fröhlich, beschwingt, teils sogar feierlich. Inzwischen können wir neben den Intervallen einige weitere Gemeinsamkeiten dieser fröhlicheren Themen feststellen. Tempo, Lautstärke und die Wahl der Instrumente tragen viel zu ihrem Charakter bei. Außerdem stehen sie alle in Dur. Was aber noch dazukommt, sind Synkopen. In jedem von den drei Themen unterwandert Franck die typische Betonung auf dem ersten und dritten Schlag des 4/4-Taktes. Indem er stattdessen Töne auf den zweiten bzw. vierten Schlag legt, lässt er diese Themen viel dynamischer wirken.

Im dritten Satz tritt wie ein Gegengewicht das Englischhornthema wieder auf und bringt etwas von der Stimmung des zweiten Satzes mit sich (31:02). Doch nun befindet sich alles im Fluss, die Musik scheint sich gar nicht beruhigen zu wollen. Die Themen des dritten Satzes bestimmen auch gleich wieder das Geschehen, jedoch nur für kurze Zeit. Das Englischhornthema kehrt zurück und schafft es tatsächlich, die Handlung zu beruhigen (33:10). Es entspinnt sich geradezu ein Konflikt zwischen den verschiedenen Themen, bei dem lange nicht klar ist, wer die Oberhand behält. Nachdem die Kontrahenten sich erschöpft haben, wittern die Elemente aus dem ersten Satz ihre Chance – erst das dritte Thema, dann das Kernmotiv (36:03 und 37:00). Das Hauptthema des Finalsatzes und das dritte Thema des ersten Satzes schaukeln sich schließlich gegenseitig hoch und bringen die Symphonie mit jubelnden Fanfaren zum Abschluss.

Vincent d'Indy, einer von Francks bekannteren Schülern (und einer seiner glühendsten Verehrer) beschrieb die Symphonie einmal als „Aufstieg zu reiner Freude und belebendem Licht“. d'Indy mag zwar im Zusammenhang mit Franck so manches übertrieben haben, doch hier kann man ihm recht geben. Die gegensätzlichen und widerstreitenden Themen verkörpern diesen Aufstieg und führen ihn zu einem glücklichen Ende. Und sollte es noch irgendwelche Zweifel an der reinen Freude geben, die diese Symphonie mit sich bringt, so lassen sie sich durch diese Aufnahme beseitigen. Ich glaube nicht, dass ich jemals ein so vergnügtes Lächeln gesehen habe wie bei diesem Dirigenten.

Literatur:
Fauquet Joël-Marie, „Franck (Niederlande/Frankreich)“, in: MGG Online.
d'Indy, Vincent, César Franck, Paris 1924. (S. 180: „La symphonie de Franck, au contraire n'est qu'une constante ascension vers la pure joie et las vivifiante lumière [...].“)
Shera, F. H., „César Francks Symphony in D Minor“, in: The Musical Times 77/1118 (1936), S. 314–317, https://www.jstor.org/stable/918132, abgerufen am 14.06.2020.
Stove, R. J., „Franck after Franck. The composer's posthumous fortunes“, in: The Musical Times, 152/1914 (2011), S. 44–60, www.jstor.com/stable/23039955 abgerufen am 14.06.2020.
Strasser, Michael, „The Société Nationale and Its Adversaries. The Musical Politics of L'Invasion germanique in the 1870s“, in: 19th-Century Music 24/3 (2001), S. 225–251, https://www.jstor.org/stable/10.1525/ncm.2001.24.3.225, abgerufen am 28.09.2020.
Strucken-Paland, Christiane, Zyklische Prinzipien in den Instrumentalwerken César Francks, Kassel 2009.
Trevitt, John, „Franck, César(-Auguste-Jean-Guillaume-Hubert)“, in: Grove Music Online.